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Wenn sich Richter nicht einig sind

Sich widersprechende Urteile sind keine Gefahr für den Rechtsstaat!
Wenn sich Richter nicht einig sind
Der Kommentar
15.03.2021

Wenn sich Richter nicht einig sind

Sich widersprechende Urteile sind keine Gefahr für den Rechtsstaat!

Der Jurastudent lernt schon sehr im früh Studium, dass die Existenz mehrerer Gerichtsinstanzen dafür spreche, dass der Gesetzgeber von der möglichen Fehlerhaftigkeit, wenigstens aber drohenden Widersprüchlichkeit unterinstanzlicher Entscheidungen ausgehe. Eine weitere Instanz ist nämlich nur sinnvoll, wenn man sich von dieser grundsätzlich einen höheren Erkenntnisgewinn verspricht. Dennoch irritieren immer wieder sich widersprechende Entscheidungen der Gerichte und lassen am Rechtsstaat zweifeln. Sich widersprechende Urteile sind aber kein Grund für berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz. Ganz im Gegenteil!

Es ist das gute Recht eines jeden Bürgers, sich gegen coronabedingte, freiheitsbeschränkende staatliche Maßnahmen durch einen Gang zu Gericht zu wehren. Dort ist der Erfolg zwar nicht garantiert. Gesichert ist jedoch, dass sich unabhängige Richter mit dem Fall beschäftigen und regelmäßig innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums eine zumindest vorläufige Entscheidung treffen. Das alles sind bedeutsame Errungenschaften eines Rechtsstaates, als den sich die Bundesrepublik Deutschland zu Recht bezeichnen darf. Zweifel daran sind nicht angebracht.

Nach einem Bericht des Deutschen Richterbundes (DRB) hat es allein im vergangenen Jahr 2020 über 10.000 Gerichtsverfahren von Bürgern gegeben, die sich gegen coronabedingte staatliche Maßnahmen richteten. Beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gingen 2020 über 70 Eilanträge im Zusammenhang mit Corona ein. Angesichts der hohe Zahl von Verfahren wundert es nicht, dass die Entscheidungen der Gerichte nicht frei von Widersprüchen sind. Allerdings tragen die sich teils widersprechenden Urteile zu coronabedingten staatlichen Maßnahmen nicht unbedingt zum Vertrauen der Menschen in die Justiz bei. Kürzlich ließen zwei Entscheidungen aufhorchen. So entschied das Verwaltungsgericht (VG) in Berlin, dass der vollständiger Ausschluss einzelner Klassenstufen von Präsenzbeschulung im Wechselmodell rechtswidrig sei (VG Berlin, Beschl. v. 10.03.2021 – VG 3 L 51/21; VG 3 L 57/21; VG 3 L 58/21; VG 3 L 59/21; VG 3 L 60/21; VG 3 L 61/21; VG 3 L 62/21), während das Oberverwaltungsgericht Münster geurteilt hat, dass es in Nordrhein-Westfalen keine sofortige Rückkehr zum Präsenzunterricht an weiterführenden Schulen geben dürfe (OVG Münster, Beschl. v. 11.03.2021 – 13 B 250/21). Wie erklärt sich so etwas?

Ein weit verbreitetes Vorurteil über Juristen lässt sich gut in einer Gleichung zusammenfassen, die gerne von Menschen, die keine Juristen sind, zitiert wird. Zwei Juristen = drei Meinungen. Und so ganz falsch liegt man mit dieser Aussage nicht. Richtig ist nämlich, dass die Juristerei keine Naturwissenschaft ist. Zwar arbeitet auch der Jurist mit Gesetzen. Diese ergeben sich aber nicht aus der Natur, sondern vielmehr aus der möglichst kurzen Zusammenfassung einer Wertentscheidung. Dabei ist häufig weniger die Wertentscheidung an sich das Problem. Vielmehr bereitet die Kürze rechtlich verbindlicher Aussagen in Gesetzen und Verordnungen ab und zu Sorgen. Denn um so kürzer die Rechtsregel formuliert wird, umso eher ergibt sich die Möglichkeit der Interpretation der Regel auf unterschiedliche Art und Weise. So entstehen Widersprüche, die letztlich unvermeidlich sind und häufig erst durch eine Entscheidung einer höheren, vorzugsweise der höchsten Instanz abschließend aufgelöst werden. Hinzukommt, dass auch Wertentscheidungen nicht immer Ausdruck einer allgemeinen Überzeugung entspringen. So mag für den einen, der zu Gericht getragene Fall so und für einen anderen eben ganz anders zu lösen sein.

Und jetzt kommt Corona. In vielen Fälle hat das Coronavirus der Juristerei rechtliches Neuland beschert. Also viel Raum für Meinungen, viel Raum für Wertentscheidungen, die natürlich nicht immer einheitlich ausfallen müssen. So kommt es, dass die Richter in Berlin und in Münster einen an sich miteinander vergleichbaren Sachverhalt gänzlich unterschiedlich beurteilen. Nicht deshalb, weil die einen Jura studiert haben und die anderen Medizin, Politik oder Theaterwissenschaften. Der Grund liegt vielmehr darin, dass es unterschiedliche Menschen sind, die mit unterschiedlichem Erfahrungsschatz, mit unterschiedlicher Sozialisierung, mit unterschiedlichem persönlichen Hintergrund entscheiden. Vielleicht liegt es ja auch daran, dass die Richterinnen und Richter hinsichtlich ein und desselben Sachverhalts einfach unterschiedlicher Meinung sind – wer weiß das schon? Wenn der Richter in Münster betagte Eltern besitzt, die trotz entsprechender Bemühungen bislang nicht gegen das Coronavirus  geimpft werden konnten, der Richter in Berlin hingegen ein junger Mensch und Single ohne betagte Eltern ist, mag das ja Einfluss haben auf die Meinung des Richters. Ist das schlimm? Weckt das Zweifel am Rechtsstaat? Nein, gewiss nicht. Bei Gericht menschelt es. Damit müssen und dürfen wir leben. Unmenschliche Richter gab es in Deutschland noch vor etwas mehr 70 Jahren. Dahin möchte keiner zurück.

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Autor(en)

Dr. Uwe P. Schlegel
Rechtsanwalt

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