Startseite | Aktuelles | Welche Folgen kann das (erlaubte) Überschreiten der Richtgeschwindigkeit auf einer Bundesautobahn haben?

Welche Folgen kann das (erlaubte) Überschreiten der Richtgeschwindigkeit auf einer Bundesautobahn haben?

Welche Folgen kann das (erlaubte) Überschreiten der Richtgeschwindigkeit auf einer Bundesautobahn haben?
Frage der Woche
04.08.2022

Welche Folgen kann das (erlaubte) Überschreiten der Richtgeschwindigkeit auf einer Bundesautobahn haben?

Siehe dazu etwa OLG München, Urt. v. 01.06.2022 – 10 U 7382/21e [aus den Entscheidungsgründen]:

„(2) Ein schuldhafter Verstoß des Klägers gegen ihm obliegende Sorgfaltspflichten kann ihm nicht angelastet werden. Insbesondere kommt kein Verstoß gegen § 3 III StVO in Betracht, da an der Unfallstelle zum Unfallzeitpunkt die Höchstgeschwindigkeit nicht beschränkt war.

Allerdings ist dem Kläger eine Mithaftung unter dem Gesichtspunkt der Betriebsgefahr seines Fahrzeugs anzulasten:

Infolge der Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen konnte sich das Erstgericht rechtsfehlerfrei davon überzeugen, dass der Kläger mit seinem Fahrzeug die auf Autobahnen geltende Richtgeschwindigkeit von 130 km/h im Kollisionszeitpunkt deutlich überschritten hatte: Die Kollisionsgeschwindigkeit des Klägerfahrzeugs betrug danach ca. 200 km/h (vgl. Seite 27 des Gutachtens vom 02.03.2021).

Die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h auf Autobahnen durch einen in einen Unfall verwickelten Fahrzeugführer schließt zwar die Berufung auf die Unabwendbarkeit nicht grundsätzlich aus. Der Unabwendbarkeitsnachweis nach § 17 Abs. 3 StVG wäre dann geführt, wenn der Kläger den ihm obliegenden Nachweis hätte führen können, dass die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h eingehalten wurde (vgl. BGH VersR 1992, 714) oder sich der Unfall mit vergleichbar schweren Folgen auch bei Einhaltung dieser Geschwindigkeit ereignet hätte (Senat, Urteil vom 02. Februar 2007 – 10 U 4976/06 -, Rn. 23, juris).

Im streitgegenständlichen Fall führte der gerichtliche Sachverständige aber unmissverständlich aus, dass der Kläger bei Einhaltung der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h, ausgehend von einer Reaktionszeit von 0,8 Sekunden, das Unfallgeschehen hätte vermeiden können (vgl. Seite 29/30 des Gutachtens vom 02.03.2021), so dass sich das deutliche Überschreiten der Richtgeschwindigkeit entgegen der Auffassung des Klägers insoweit auf den Unfall ausgewirkt hat (vgl. Seite 3 der Berufungserwiderung vom 05.03.2022 = Bl. 31 d. OLG-A.). Zwar hat das Erstgericht unter Verweis auf die Entscheidung des Senats vom 08.04.2011 – 10 U 5122/10 – ausgeführt, dass einem Fahrer haftungsrechtlich bei einer zu späten Reaktion im Bereich von bis zu 1,2 Sekunden – nach den Ausführungen des Sachverständigen ergäbe sich vorliegend bereits eine Unvermeidbarkeit bei einem Reaktionsverzug von 0,8 bis 1,1 Sekunden (vgl. Seite 7 des Ergänzungsgutachtens vom 23.07.2021) – ohne vorherige, durch sonstige Umstände hervorgerufene besondere Aufmerksamkeitsaufforderungen kein Schuldvorwurf gemacht werden könne und Ablenkungen nach vorne in dieser zeitlichen Dimension üblicherweise selbst durch die Pflichten der StVO (Blick in den Rückspiegel, Schulterblick, etc.) verursacht würden (vgl. Seite 7 des EU). Für die Beurteilung der Frage, ob ein unabwendbares Ereignis vorliegt, kann es hierauf jedoch nicht ankommen. Denn ein Ereignis ist nur dann unabwendbar, wenn es ´bei Anwendung möglich äußerster Sorgfalt nicht hätte abgewendet werden können. Dies erfordert geistesgegenwärtiges und sachgemäßes Handeln, welches über den gewöhnlichen und persönlichen Maßstab hinausgeht. Die Rechtsprechung geht dann von einer Unabwendbarkeit aus, wenn ein so genannter Idealfahrer den Verkehrsunfall nicht hätte verhindern können´ (MüKoStVR/Engel, 1. Aufl. 2017, StVG § 17 Rn. 32). Bei einem Idealfahrer wäre es aber nicht zu einem Reaktionsverzug gekommen.

Streng von der Frage der Unabwendbarkeit, ist aber die Frage der Haftungsverteilung zu trennen (so zu Recht OLG Hamm NZV 2002, 373 zu § 7II StVG a.F.):

(a) Grundsätzlich ist bei deutlicher Überschreitung der Richtgeschwindigkeit die Betriebsgefahr zu Lasten des schuldlos an einem Verkehrsunfall Beteiligten zu berücksichtigen (BGH VersR 1992, 714; OLG Hamm NZV 2000, 43 u. 373; Senat, Urt. v. 27.03.1998 – Az. 10 U 4504/97; Senat, Urteil vom 02. Februar 2007 – 10 U 4976/06 -,juris).

(b) Dies schließt zwar andererseits nicht aus, dass die Betriebsgefahr im Einzelfall hinter einem groben Verschulden des Unfallverursachers zurücktritt. Bei einer aber – wie im vorliegenden Fall – eklatanten Überschreitung der Richtgeschwindigkeit des Klägerfahrzeugs um ca. 70 km/h ist dieses jedoch betriebsgefahrerhöhend zu berücksichtigen. Das OLG Düsseldorf hat insoweit in einer Entscheidung vom 21. November 2017 – I-1 U 44/17 zutreffend ausgeführt:

´Denn wer schneller als 130 km/h fährt, vergrößert in haftungsrelevanter Weise die Gefahr, dass sich ein anderer Verkehrsteilnehmer auf diese Fahrweise nicht einstellt und insbesondere die Geschwindigkeit unterschätzt (BGH, Urteil vom 17.03.1992 – VI ZR 61/91, juris). Die Erfahrung zeigt, dass immer wieder Verkehrsteilnehmer die Geschwindigkeit eines sich schnell nähernden Fahrzeugs, zumal wenn es von hinten herankommt, nicht richtig einzuschätzen und sich hierauf bei einem Wechsel der Fahrstreifen nicht einzustellen vermögen (BGH a.a.O.). Denn auch wenn die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h nach der Autobahn-Richtigkeitsgeschwindigkeits-Verordnung keinen Schuldvorwurf begründet, bedeutet das Fehlen unmittelbarer Sanktionen nicht die rechtliche Irrelevanz auch für das Haftungsrecht. Neben dem Umstand, dass regelmäßig ein oberhalb der Richtgeschwindigkeit fahrender Kraftfahrer den Unabwendbarkeitsnachweis für den Unfall gemäß § 7 Abs. 2 StVG (a.F.) nicht führen kann, wirkt sich eine hohe Ausgangsgeschwindigkeit auch dahingehend aus, dass sie bei der Abwägung der Verursachungsbeiträge nicht außer Ansatz bleiben kann (vgl. BGH a.a.O.)´.

Der Senat erachtet daher infolge der Tatsache, dass der Kläger die geltende Richtgeschwindigkeit ganz erheblich überschritten hat und der Unfall für ihn bei Einhaltung der Richtgeschwindigkeit auch vermeidbar gewesen wäre, eine Haftungsverteilung von 75:25 zu Lasten der Beklagten für sachgerecht.“

Suchen
Autor(en)
Weitere interessante Artikel