Entstehen eines Anspruchs auf Entgeltzuschläge aufgrund betrieblicher Übung
Das Landesarbeitsgericht (LAG) Sachsen hat entschieden (LAG Sachsen, Urt. v. 30.12.2022 – 1 Sa 87/22 [Leitsatz]):
„Der Arbeitnehmer darf einer vom Betriebsübernehmer eingeführten Veränderung der Bezeichnung eines Zuschlags in den regelmäßigen Entgeltabrechnungen rechtsgeschäftlichen Erklärungswert beimessen.“
In den Entscheidungsgründen heißt es:
„3. Die Klage ist in vollem Umfang begründet. Der Kläger hat einen arbeitsvertraglichen Anspruch auf Zahlung der begehrten Zuschläge aus § 611a Abs. 2 BGB, wobei der vertragliche Anspruch durch konkludentes Verhalten der Parteien nach den Grundsätzen der betrieblichen Übung entstanden ist.
a) Eine dauerhafte Verpflichtung des Arbeitgebers kann sich aus betrieblicher Übung, mithin einem Verhalten mit Erklärungswert, ergeben. Unter betrieblicher Übung versteht man die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers, aus denen der Arbeitnehmer schließen kann, ihm solle eine Leistung oder Vergünstigung auf Dauer gewährt werden (ständige Rechtsprechung, vergleiche BAG, Urteil vom 14.9.2011,10 AZR 526/10, juris, zu I 1 a) der Gründe). Aus diesem nach den Grundsätzen des § 133 BGB als Vertragsangebot zu wertenden Verhalten des Arbeitgebers, dass der Arbeitnehmer regelmäßig stillschweigend unter Verzicht auf den Zugang der Annahmeerklärung annimmt (§ 151 BGB), erwachsen vertragliche Ansprüche auf die üblich gewordenen Leistungen für die Zukunft. Entscheidend ist dabei nicht, ob der Erklärende einen Verpflichtungswillen hatte, sondern ob der Erklärungsempfänger die Erklärung oder das Verhalten des Arbeitgebers nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung aller Begleitumstände gemäß der §§ 133, 157 BGB dahin verstehen konnte und durfte, der Arbeitgeber wolle sich zu einer über seine gesetzlichen, tarifvertraglichen oder vertraglichen Pflichten hinausgehende Leistung verpflichten (BAG. a.a.O.). Da es auf den Empfängerhorizont ankommt, kann eine betriebliche Übung dann nicht entstehen, wenn der Arbeitgeber irrtümlich meinte, aufgrund einer Norm oder einer vertraglichen Abrede zur Zahlung verpflichtet zu sein und der Arbeitnehmer die Grundlagen des Irrtums erkannte.
Dabei trägt nicht der Arbeitgeber die Darlegungslast dafür, dass er für den Arbeitnehmer erkennbar irrtümlich glaubte, die betreffenden Leistungen in Erfüllung tarifvertraglicher oder sonstiger Rechtspflichten erbringen zu müssen. Vielmehr ist es Sache der klagenden Partei, die Anspruchsvoraussetzungen darzulegen. Dazu gehört im Falle der betrieblichen Übung auch die Darlegung, dass das Verhalten des Arbeitgebers aus Sicht des Empfängers ausreichende Anhaltspunkte dafür bot, der Arbeitgeber wolle Zahlungen erbringen, ohne hierzu bereits aus anderen Gründen – etwa aufgrund eines Tarifvertrags oder einer Betriebsvereinbarung – verpflichtet zu sein (zur Darlegungs- und Beweislast vgl. BAG, Urteil vom 19.2.2020, 5 AZR 189/18, juris, zu II.1 der Gründe)
b) Nach diesen Grundsätzen ist durch das vom Kläger dargelegte Verhalten der Beklagten nach dem 1.1.2015 ein Anspruch auf Zahlung der geltend gemachten Zulagen für die elfte und zwölfte Stunde der 12-Stunden-Dienste im Wege der betriebliche Übung entstanden. Auf die Frage, ob ein entsprechender Anspruch bereits im Verhältnis zwischen der ASB … gGmbH und dem Kläger entstanden ist, kommt es dabei nicht an.
aa) Die Klägerin hat ihre Lohnabrechnungen anders gestaltet, als ihre Rechtsvorgängerin ASB … gGmbH. Diese rechnete das Entgelt des Klägers in monatlichen Lohn-/Gehaltsabrechnungen ab, in denen das Gehalt, Urlaubsentgelt Zuschläge und alle anderen den jeweiligen Monat betreffenden Leistungen ausgewiesen waren. In diesen Abrechnungen bezeichnete die Rechtsvorgängerin der Klägerin die streitgegenständlichen Zuschläge mit dem Begriff ´Bereitschaft AVR´, nahm also auf die im Jahr 1996 arbeitsvertraglich zwischen Kläger und Johanniter Unfallhilfe e.V. vereinbarten AVR Bezug.
Die Klägerin hat die Entgeltabrechnung dagegen anders aufgebaut. Sie erteilt Abrechnungen, in denen jeweils zwischen zwei Abrechnungsperioden unterschieden wird. Für den laufenden Monat wird die Regelvergütung abgerechnet, für den vorausgehenden Monat diejenigen Zeitbezüge, deren Tatsachengrundlage erst nachträglich festgestellt werden kann. Als solcher Zeitbezug wird rückwirkend für den vorausgehenden Monat in der Entgeltabrechnung regelmäßig nur noch ausgewiesen ´Bereitschaftszuschlag 65 %´.
bb) Der Kläger durfte angesichts der veränderten Durchführung der Entgeltabrechnung und der andersartigen Mitteilung des Zahlungsgrundes sowie der ununterbrochenen Gewährung des Zuschlags seit dem Übergang des Arbeitsverhältnisses auf die Beklagte am 1.1.2015 nach Treu und Glauben davon ausgehen, die Beklagte wolle den ´Bereitschaftszuschlag 65 %´ als freiwillige Leistung gewähren.
In den Lohnabrechnungen der Beklagten wird im Gegensatz zu denjenigen der Rechtsvorgängerin der Klägerin nicht mehr auf die bei Beginn des Arbeitsverhältnisses vereinbarten AVR Bezug genommen. Der Bezug zu früheren vertraglichen Regelungen, die nach § 613 a Abs.1 Satz 1 im Falle des Betriebsübergangs weitergelten, oder zu kollektiven Regelungen, die nach § 613 a Abs.1 Satz 2 BGB bei einem Betriebsübergang in arbeitsvertragliche Verpflichtungen transformiert werden, ist in den von der Beklagten erteilten Entgeltabrechnungen nicht mehr erkennbar.
Zweck der Entgeltabrechnung i.S.d. § 108 Abs.1 GewO ist die Herstellung von Transparenz; der Arbeitnehmer soll erkennen können, warum er gerade den ausgezahlten Betrag erhält (BAG, Urteil vom 10.1.2007, 5 AZR 665/06, juris, zu II. der Gründe). Der Kläger durfte deshalb darauf vertrauen, dass die Entgeltabrechnungen richtig und vollständig sind. Aus seiner Perspektive konnte er mangels Bezugnahme auf die arbeitsvertraglich vereinbarten AVR davon ausgehen, dass die Beklagte ab 1.1.2015 Bereitschaftszuschläge in der geltend gemachten Höhe für die elfte und zwölfte Stunde der Dienste als freiwillige Leistung zahlen wollte. Damit entstand der Anspruch auf die streitgegenständlichen Leistungen aufgrund betrieblicher Übung. Der Vortrag des Klägers zur Zahl der zuschlagspflichtigen Stunden und zur Berechnung der Forderungen ist zwischen den Parteien nicht streitig.“