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Zur 15-Monats-Verfallfrist bei einem Dauerkranken

Zur 15-Monats-Verfallfrist bei einem Dauerkranken
Aktuelles
01.06.2023

Zur 15-Monats-Verfallfrist bei einem Dauerkranken

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat wie folgt entschieden (BAG, Urt. v. 31.01.2023 – 9 AZR 107/20):

„Die bei einer mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG konformen Auslegung von § 7 BUrlG bei Langzeiterkrankungen geltende 15-monatige Verfallfrist kann ausnahmsweise unabhängig von der Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten beginnen, wenn die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers so früh im Urlaubsjahr eintritt, dass es dem Arbeitgeber tatsächlich nicht möglich war, zuvor seinen Obliegenheiten nachzukommen.“

In den Entscheidungsgründen heißt es weiter:

„Nach § 7 Abs. 4 BUrlG ist Urlaub abzugelten, der wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden kann. Der Anspruch auf Urlaubsabgeltung setzt voraus, dass zum Zeitpunkt der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch offene Urlaubsansprüche bestehen, die nicht mehr erfüllt werden können, weil das Arbeitsverhältnis beendet ist. Dies ist dann nicht der Fall, wenn sie bereits zuvor am Ende des Bezugszeitraums oder eines zulässigen Übertragungszeitraums verfallen sind.

(…) Bei einer mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG konformen Auslegung von § 7 BUrlG erlischt der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub grundsätzlich nur dann am Ende des Kalenderjahres (§ 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG) oder eines zulässigen Übertragungszeitraums (§ 7 Abs. 3 Satz 2 und Satz 4 BUrlG), wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und dieser den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Dazu muss er den Arbeitnehmer – erforderlichenfalls förmlich – dazu auffordern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub verfällt, wenn er ihn nicht nimmt (vgl. EuGH 6. November 2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 45; zu den inhaltlichen Anforderungen an die Mitwirkungsobliegenheiten vgl. BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 39 ff., BAGE 165, 376). Die Erfüllung dieser Mitwirkungsobliegenheiten durch den Arbeitgeber ist grundsätzlich Voraussetzung für das Eingreifen des urlaubsrechtlichen Fristenregimes des § 7 Abs. 3 BUrlG (vgl. im Einzelnen BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 21 ff. aaO) mit der Folge, dass Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub nach Maßgabe von § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG mit Ablauf des Urlaubsjahres verfällt, wenn der Arbeitnehmer ihn nicht verlangt.

(…) Ist der Arbeitnehmer infolge krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit oder voller Erwerbsminderung daran gehindert, seinen Urlaub bis zum Ende des Urlaubsjahres zu nehmen, kann der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub – bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit – unter besonderen Umständen mit Ablauf des 31. März des zweiten Folgejahres untergehen (vgl. EuGH 22. September 2022 – C-518/20 und C-727/20 – [Fraport] Rn. 35; 29. November 2017 – C-214/16 – [King] Rn. 53 f. mwN).

(…) War der Arbeitnehmer seit Beginn des Urlaubsjahres durchgehend bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres arbeitsunfähig, verfällt der Urlaubsanspruch 15 Monate nach Beendigung des Urlaubsjahres unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachgekommen ist. In diesem Fall sind nicht Handlungen oder Unterlassungen des Arbeitgebers, sondern allein die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers für den Verfall des Urlaubs kausal. Kann der Arbeitnehmer die geschuldete Arbeitsleistung aus gesundheitlichen Gründen nicht erbringen, ist eine Befreiung von der Arbeitspflicht durch Urlaubsgewährung rechtlich unmöglich (BAG 20. Dezember 2022 – 9 AZR 401/19 – Rn. 21; 7. Juli 2020 – 9 AZR 401/19 (A) – Rn. 26 mwN, BAGE 171, 231). Eine freie Entscheidung über die Verwirklichung des Anspruchs ist – ohne dass es auf die Aufforderungen und Hinweise des Arbeitgebers ankäme – von vornherein ausgeschlossen, weil die Arbeitsunfähigkeit auf psychischen oder physischen Beschwerden beruht und vom Willen des Arbeitnehmers unabhängig ist (st. Rspr., vgl. EuGH 25. Juni 2020 – C-762/18 und C-37/19 – [Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria] Rn. 66; 4. Oktober 2018 – C-12/17 – [Dicu] Rn. 32, 33 mwN).

(…) Demgegenüber kann ein Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub aus einem Bezugszeitraum, in dessen Verlauf der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat, bevor er aufgrund einer seitdem fortbestehenden Krankheit arbeitsunfähig geworden ist, bei einer richtlinienkonformen Auslegung des § 7 Abs. 1 und Abs. 3 BUrlG grundsätzlich nur dann nach Ablauf eines Übertragungszeitraums von 15 Monaten erlöschen, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer durch Erfüllung seiner Mitwirkungsobliegenheiten rechtzeitig in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch auszuüben. Der Arbeitgeber hat grundsätzlich die Initiative zu ergreifen, damit der Arbeitnehmer seinen Urlaubsanspruch gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG verwirklicht. In der Regel führt erst die Erfüllung der daraus abgeleiteten Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Urlaub auch tatsächlich zu nehmen, zur Befristung des Urlaubsanspruchs nach § 7 Abs. 3 BUrlG (BAG 20. Dezember 2022 – 9 AZR 401/19 – Rn. 22).

(…) Eine besondere Konstellation, in der die 15 Monatsfrist bei unterjährigem Eintritt der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit ausnahmsweise zu laufen beginnt, ohne dass der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachgekommen ist, besteht bei einer früh im Urlaubsjahr eintretenden Erkrankung des Arbeitnehmers. Dem Arbeitgeber muss es tatsächlich möglich sein, den Arbeitnehmer vor dessen Erkrankung in die Lage zu versetzen, Urlaub zu nehmen. Solange dies aufgrund des frühen Zeitpunkts des Krankheitseintritts im Urlaubsjahr nicht der Fall ist, kann die Befristung des Urlaubsanspruchs nicht von der Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten abhängen (vgl. BAG 30. November 2021 – 9 AZR 143/21 – Rn. 20; 7. Juli 2020 – 9 AZR 401/19 (A) – Rn. 23, BAGE 171, 231). Das Risiko, wegen einer im Urlaubsjahr eintretenden Krankheit Urlaubsansprüche nicht erfüllen zu können, ist dem Arbeitgeber somit erst zugewiesen, wenn er seinen Obliegenheiten tatsächlich nachkommen konnte.

(…) Die Obliegenheiten aus § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG dienen keinem Selbstzweck. Sie sollen verhindern, dass der Arbeitnehmer den Urlaubsanspruch verliert, weil er ihn in Unkenntnis der Befristung nicht rechtzeitig gegenüber dem Arbeitgeber geltend macht. Dieser Zweck bestimmt sowohl den Inhalt der gebotenen Mitwirkungsobliegenheiten (vgl. hierzu BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 423/16 – Rn. 40 f., BAGE 165, 376) als auch deren Rechtsfolgen (BAG 7. Juli 2020 – 9 AZR 401/19 (A) – Rn. 24, BAGE 171, 231). Tritt die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers so früh im Urlaubsjahr ein, dass es dem Arbeitgeber tatsächlich nicht möglich war, zuvor seine Obliegenheiten zu erfüllen, verfällt der Urlaubsanspruch bei fortdauernder Erkrankung mit Ablauf eines Übertragungszeitraums in jedem Fall 15 Monate nach Ende des Urlaubsjahres (vgl. EuGH 22. September 2022 – C-518/20 und C-727/20 – [Fraport] Rn. 42, mit ausdrücklichem Hinweis Rn. 65 der Schlussanträge des Generalanwalts Jean Richard de la Tour vom 17. März 2022). Auch die Nichtbeachtung der Mitwirkungsobliegenheiten ändert in diesem Fall nichts daran, dass der nicht angetretene Urlaub erlischt.

(…) Der volle Urlaubsanspruch entsteht gemäß § 4 BUrlG nach sechsmonatigem Bestehen des Arbeitsverhältnisses jeweils am 1. Januar eines Kalenderjahres. Ab diesem Zeitpunkt hat der Arbeitgeber bei der Erfüllung des Urlaubsanspruchs mitzuwirken. Zuvor muss er die Gewährung und Inanspruchnahme künftigen Urlaubs regelmäßig nicht initiieren. Ohne das Substrat, an das die Mitwirkungshandlungen anknüpfen, kann die darauf ausgerichtete Obliegenheit nicht bestehen. Mit Entstehung des Urlaubsanspruchs muss der Arbeitgeber seiner Verantwortung im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme des Urlaubs unverzüglich iSv. § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB nachkommen, um nicht das Risiko zu tragen, dass Urlaub wegen einer im Verlauf des Urlaubsjahres eintretenden krankheitsbedingten Erkrankung des Arbeitnehmers nicht am Ende von 15 Monaten erlischt.

(…) Maßgeblich dafür, ob der Arbeitgeber den Arbeitnehmer unverzüglich aufgefordert hat, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar mitgeteilt hat, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn er ihn nicht beantragt, ist der Zugang der Erklärung beim Arbeitnehmer. Entsprechend der Legaldefinition in § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB müssen Aufforderung und Hinweis nicht sofort nach Urlaubsentstehung erfolgen, sondern ohne schuldhaftes Zögern. Die Zeitspanne, die dem Arbeitgeber zur Vorbereitung und Durchführung der Belehrung einzuräumen ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Da die Berechnung des Urlaubsanspruchs und die Formulierung der Belehrung regelmäßig keine besonderen Schwierigkeiten bereiten, ist unter normalen Umständen eine Zeitspanne von einer (Urlaubs-)Woche (dh. in Anlehnung an § 3 BUrlG sechs Werktage) ausreichend. Ohne Vorliegen besonderer Umstände (wie zB Betriebsferien zu Jahresbeginn) handelt der Arbeitgeber nicht unverzüglich, wenn er seine Mitwirkungsobliegenheiten erst später als eine Woche nach Urlaubsentstehung erfüllt (vgl. zur unverzüglichen Zurückweisung nach § 174 Satz 1 BGB BAG 20. Mai 2021 – 2 AZR 596/20 – Rn. 14 mwN, BAGE 175, 94).

(…) Urlaub kann außerdem nur in dem Umfang erhalten bleiben, in dem der Arbeitnehmer ihn bis zum Eintritt der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit tatsächlich hätte in Anspruch nehmen können. Soweit der Arbeitnehmer den Urlaub selbst bei ordnungsgemäßer Erfüllung der Mitwirkungshandlungen aus gesundheitlichen Gründen nicht hätte antreten können, treffen den Arbeitgeber nicht die grundsätzlichen eintretenden nachteiligen Folgen der Obliegenheitsverletzung. Eine Kausalität zwischen der Nichtinanspruchnahme des Urlaubs durch den Arbeitnehmer und der Nichtvornahme der Mitwirkung durch den Arbeitgeber ist in diesem Fall ausgeschlossen.

(…) Diese Grundsätze gelten im Hinblick auf die Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers auch für den tariflichen Mehrurlaub. Insoweit haben die Tarifvertragsparteien des TVöD den tariflichen Mehrurlaub nicht abweichend von den gesetzlichen Vorgaben geregelt. Abweichungen bestehen lediglich hinsichtlich der Dauer des Übertragungszeitraums, nicht jedoch hinsichtlich der Voraussetzungen, unter denen das Fristenregime aktiviert wird.

(…).

Danach ist die Klage unbegründet, soweit der Kläger die Abgeltung von 25 Arbeitstagen Urlaub verlangt.

(…) Dem Kläger stand für das Kalenderjahr 2016 Urlaub im Umfang von 30 Arbeitstagen zu. Dieser setzte sich aus dem gesetzlichen Mindesturlaub (§§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG) einschließlich des deckungsgleichen Teils des Tarifurlaubs von einheitlich 20 Arbeitstagen und dem diesen übersteigenden – übergesetzlichen – Teil des Tarifurlaubs von 10 Arbeitstagen (§ 26 Abs. 1 Satz 2 TVöD) zusammen.

(…) Zum Zeitpunkt der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses sind 25 Urlaubstage verfallen.

(…) Aufgrund der am 18. Januar 2016 eingetretenen und bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 28. Februar 2019 andauernden krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit des Klägers lagen zwischen Montag, dem 4. Januar 2016 und Freitag, dem 15. Januar 2016, zehn Arbeitstage, in denen der Urlaubsanspruch hätte erfüllt werden können. Die Gewährung und Inanspruchnahme der weiteren 20 Arbeitstage Urlaub waren wegen der Erkrankung des Klägers sowohl im Urlaubsjahr als auch in der 15 Monatsfrist unabhängig davon unmöglich, dass die Beklagte ihren Mitwirkungsobliegenheiten nicht nachgekommen ist. Deshalb konnte der Urlaubsanspruch in diesem Umfang spätestens am 31. März 2018 verfallen.

(…) Zudem musste die Beklagte ihre Mitwirkungsobliegenheiten nicht vor dem 8. Januar 2016 erfüllen, um den Kläger noch unverzüglich in die Lage zu versetzen, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen. Bei den bis dahin verstrichenen fünf Arbeitstagen handelt es sich um die Zeitspanne, die der Beklagten jedenfalls zur Verfügung stand, um den Urlaub des Klägers für des Jahr 2016 zu initiieren. Erst nach deren Ablauf ist das Risiko, dass Urlaubsansprüche wegen einer Langzeiterkrankung verfallen, auf die Beklagte übergegangen und eine Kausalität zwischen der Nichterfüllung des Urlaubs und der unterbliebenen Mitwirkung gegeben.“

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Dr. Uwe P. Schlegel
Rechtsanwalt



Rüdiger Soltyszeck, LL.M.
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Mail: koeln@etl-rechtsanwaelte.de


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