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Zu den Verkehrssicherungspflichten einer Kraftfahrzeugvertragshändlerin bei der Bestellung und Weitergabe von Ersatzschlüsseln für Kraftfahrzeuge

Zu den Verkehrssicherungspflichten einer Kraftfahrzeugvertragshändlerin bei der Bestellung und Weitergabe von Ersatzschlüsseln für Kraftfahrzeuge
Aktuelles
10.06.2023

Zu den Verkehrssicherungspflichten einer Kraftfahrzeugvertragshändlerin bei der Bestellung und Weitergabe von Ersatzschlüsseln für Kraftfahrzeuge

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat zur Frage eines Anspruchs auf Schadensersatz nach § 823 Abs. 1, § 831 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. § 86 VVG wie folgt entschieden (BGH, Urt. v. 28.03.2023 – VI ZR 19/22 [aus den Entscheidungsgründen]):

„Das Urteil hält revisionsrechtlicher Überprüfung stand. Zu Recht hat das Berufungsgericht Schadensersatzansprüche der Klägerin aus übergegangenem Recht hinsichtlich der vier Autodiebstähle bejaht (§ 823 Abs. 1, § 831 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. § 86 VVG).

(…) Die Revision wendet sich ohne Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass die Beklagte hinsichtlich der Ersatzschlüsselbestellungen und -lieferungen ihre Verkehrssicherungspflichten in Gestalt von Prüf- und Kontrollpflichten verletzt hat.

(…) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist derjenige, der eine Gefahrenlage – gleich welcher Art – schafft, grundsätzlich verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern. Zu berücksichtigen ist dabei, dass nicht jeder abstrakten Gefahr vorbeugend begegnet werden kann. Ein allgemeines Verbot, andere nicht zu gefährden, wäre utopisch. Eine Verkehrssicherung, die jede Schädigung ausschließt, ist im praktischen Leben nicht erreichbar. Haftungsbegründend wird eine Gefahr daher erst dann, wenn sich für ein sachkundiges Urteil die naheliegende Möglichkeit ergibt, dass Rechtsgüter anderer verletzt werden. Deshalb muss nicht für alle denkbaren Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge getroffen werden. Es sind vielmehr die Vorkehrungen zu treffen, die geeignet sind, eine Schädigung anderer tunlichst abzuwenden. Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist genügt, wenn im Ergebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält. Daher reicht es anerkanntermaßen aus, diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger der betroffenen Verkehrskreise für ausreichend halten darf, um andere Personen vor Schäden zu bewahren und die den Umständen nach zuzumuten sind (vgl. Senatsurteile vom 19. Januar 2021 – VI ZR 194/18, NJW 2021, 1090 Rn. 8 f. und VI ZR 210/18, VersR 2021, 452 Rn. 24 f.; vom 11. Februar 2020 – VI ZR 286/19, NJW 2020, 2116 Rn. 14; vom 25. Februar 2014 – VI ZR 299/13, NJW 2014, 2104 Rn. 8 f.; vom 2. Oktober 2012 – VI ZR 311/11, BGHZ 195, 30 Rn. 6 f.; BGH, Urteile vom 23. April 2020 – III ZR 251/17, NJW 2020, 3106 Rn. 24; vom 19. Juli 2018 – VII ZR 251/17, NJW 2018, 2956 Rn. 17 f.).

In Bezug auf ein und dieselbe Gefahrenquelle kann sich dabei auch die Verantwortlichkeit mehrerer Personen ergeben (vgl. Förster in BeckOK BGB, Stand: 1.2.2023, § 823 Rn. 307; Sprau in Grüneberg, BGB, 82. Aufl., § 823 Rn. 48). In diesem Fall enden die Verkehrssicherungspflichten für denjenigen, der die Gefahr geschaffen hat, erst, wenn sichergestellt ist, dass der nachfolgende Beherrscher einer Gefahrenquelle die Gefahr erkannt hat und vernünftigerweise davon auszugehen ist, dass dieser Sicherungsmaßnahmen einleitet (vgl. Senatsurteil vom 12. November 1996 – VI ZR 270/95, NJW 1997, 582, juris Rn. 16; OLG Rostock, Urteil vom 18. Dezember 2020 – 5 U 91/18, juris Rn. 88; Spindler in BeckOGK BGB, Stand: 1.11.2022, § 823 Rn. 433). Unklarheiten in der Abgrenzung der Sicherungszuständigkeiten dürfen dabei nicht im Sinne einer wechselseitigen Entlastung der Sicherungspflichtigen zulasten des Geschädigten gehen; gegebenenfalls haften die mehreren Sicherungspflichtigen gemäß § 840 Abs. 1 BGB als Gesamtschuldner (vgl. BGH, Urteil vom 14. März 1985 – III ZR 206/83, VersR 1985, 641, juris Rn. 17; Hager in Staudinger, BGB, 2021, § 823 Rn. E 56; Wagner in MünchKommBGB, 8. Aufl., § 823 Rn. 520).

Darüber hinaus können Verkehrssicherungspflichten mit der Folge eigener Entlastung delegiert werden, wodurch sich die Verkehrssicherungspflichten des ursprünglich Verantwortlichen auf Kontroll- und Überwachungspflichten verkürzen und der Übernehmende seinerseits deliktisch verantwortlich wird. Voraussetzung hierfür ist, dass die Übertragung klar und eindeutig vereinbart wird. Eines wirksamen Vertrages bedarf es insoweit nicht. Entscheidend ist, dass der in die Verkehrssicherungspflicht Eintretende faktisch die Verkehrssicherung für den Gefahrenbereich übernimmt und im Hinblick hierauf Schutzvorkehrungen durch den primär Verkehrssicherungspflichtigen unterbleiben, weil sich dieser auf das Tätigwerden des Beauftragten verlässt (vgl. Senatsurteile vom 13. Juni 2017 – VI ZR 395/16, NJW 2017, 2905 Rn. 9; vom 22. Januar 2008 – VI ZR 126/07, NJW 2008, 1440 Rn. 9; vom 4. Juni 1996 – VI ZR 75/95, NJW 1996, 2646, juris Rn. 13; BGH, Urteil vom 23. April 2020 – III ZR 251/17, NJW 2020, 3106 Rn. 28; Förster in BeckOK BGB, Stand: 1.2.2023, § 823 Rn. 352 ff.; Spindler in BeckOGK BGB, Stand: 1.11.2022, § 823 Rn. 435; Sprau in Grüneberg, BGB, 82. Aufl., § 823 Rn. 50; Wagner in MünchKommBGB, 8. Aufl., § 823 Rn. 526 ff.).

(…)  Nach diesen Grundsätzen hat das Berufungsgericht Verletzungen der Verkehrssicherungspflicht der Beklagten mit Recht bejaht.

Hier ergab sich vorausschauend für ein sachkundiges Urteil die naheliegende Gefahr, dass Rechtsgüter anderer verletzt werden können. Wie das Berufungsgericht zutreffend erkennt, hat die Beklagte durch die Überlassung von Ersatzschlüsseln an die UAB ohne vorherige Prüfung, ob diese sich berechtigt im Besitz der mit den Ersatzschlüsseln zu versorgenden Kraftfahrzeuge befand oder berechtigt für die jeweiligen Halter/Eigentümer handelte, die erhebliche Gefahrenlage für diese Eigentümer geschaffen, dass ihr Fahrzeug von Unbefugten genutzt und/oder entwendet wird. Durch die Nachbestellung und das Inverkehrbringen des Ersatzschlüssels wird eine unmittelbare Zugriffsmöglichkeit auf das Fahrzeug geschaffen, welche die Gefahr des Missbrauchs durch Unbefugte in sich trägt (vgl. zu Sicherungspflichten des Fahrzeugbesitzers bezüglich der Fahrzeugschlüssel bzw. zur Verhinderung von Schwarzfahrten: Senatsurteil vom 15. Dezember 1970 – VI ZR 97/69, NJW 1971, 459, juris Rn. 28; OLG Hamm, Urteil vom 17. Februar 2004 – 9 U 161/03, NJW-RR 2004, 1097, juris Rn. 7; Thüringer Oberlandesgericht, Urteil vom 8. Juli 2003 – 5 U 177/03, VersR 2004, 879; Haag in Geigel, Haftpflichtprozess, 28. Aufl., Kap. 14 Rn. 188; Hager in Staudinger, BGB, 2021, § 823 Rn. E 401; Spindler in BeckOGK BGB, Stand: 1.11.2022, § 823 Rn. 414; Wagner in MünchKommBGB, 8. Aufl., § 823 Rn. 454; zur Missbrauchsgefahr bei Wohnungsschlüsseln vgl. BGH, Urteil vom 5. März 2014 – VIII ZR 205/13, NJW 2014, 1653 Rn. 19; Eisenschmid in Schmidt-Futterer, Mietrecht, 15. Aufl., § 535 Rn. 533). Dass die Gefahr sich aus missbräuchlichem Verhalten Dritter speist, steht der Annahme einer Verkehrssicherungspflicht nicht entgegen. Verkehrssicherungspflichten dienen auch der Verhütung solcher Gefahren, die aus unbefugtem oder missbräuchlichem Verhalten entstehen, wenn die Gefahr zweckwidriger Benutzung groß ist und dem Sicherungspflichtigen Vorkehrungen gegen die missbräuchliche Nutzung möglich und zumutbar sind (vgl. Senatsurteil vom 11. März 1980 – VI ZR 66/79, NJW 1980, 1745, juris Rn. 8 zu missbräuchlichem Verhalten des Rechtsgutsinhabers).

Dieser Gefahr und den tatsächlich eingetretenen Rechtsgutsverletzungen durch die Kfz-Diebstähle hätte – wie das Berufungsgericht zutreffend sieht – durch Prüfung der Berechtigung der Schlüsselanforderung und Plausibilisierung des Schlüsselverlustes vorgebeugt werden können. Vorkehrungen – etwa in Form der Vorlage eines Bestellschreibens des betroffenen Fahrzeughalters nebst Ausweispapieren oder Zulassungsbescheinigungen sowie eines Nachweises über den Defekt oder das Abhandenkommen des Erstschlüssels – waren der Beklagten möglich und zumutbar. Dass eine solche Handhabung der Erwartung der betroffenen Verkehrskreise entsprach, ergibt sich bereits aus den Empfehlungen der V.        AG zur Verfahrensweise und Dokumentation bei Ersatzschlüsselbestellungen zur Verhinderung von Missbrauch, auch wenn diese ausdrücklich die Ersatzschlüsselbestellung durch den Kunden anspricht und auf das vorliegende Verhältnis eines Vertragshändlers zu einem NORA-Kunden nicht unmittelbar anwendbar sein sollte. Da die UAB für die Ersatzschlüsselbeschaffung nicht den direkten Weg zum Hersteller wählte, weil ihr dieser auch als NORA-Kunde verschlossen war, sondern die Beklagte damit beauftragte, musste diese als verständige, umsichtige, vorsichtige und gewissenhafte Vertragshändlerin mit der Befugnis zur Ersatzschlüsselbeschaffung im Bewusstsein der Missbrauchs- und Diebstahlsgefahren auch gegenüber der UAB die Vorsicht wie gegenüber jedem nachbestellenden Kunden walten lassen, selbst wenn dies die Vereinbarungen der Vertriebsorganisation nicht explizit vorgesehen haben sollten und die bisherigen stichprobenartigen Überprüfungen der UAB, die sich auf den Einbau gelieferter Ersatzteile bezogen haben sollen, keine Hinweise auf Organisationslücken oder Unregelmäßigkeiten ergeben haben sollten.

Zu Recht hat das Berufungsgericht es für unerheblich gehalten, dass die Bestellung der Ersatzschlüssel durch und deren Auslieferung an einen in die NORA-Organisation eingebundenen Händler erfolgt ist. Entgegen der Auffassung der Revision durfte das Berufungsgericht die genannten Sicherheitsvorkehrungen trotz der Geschäftsbeziehung der Beklagten zur UAB für zumutbar halten. Dass dies die geltend gemachte, seit 2004 bestehende langjährige Vertrauensbeziehung zur UAB bedroht und die wirtschaftlichen Interessen der Beklagten damit ernstlich beeinträchtigt hätte, erscheint fernliegend, nachdem die Beklagte selbst vorgetragen hat, die UAB zwischen 2012 und 2016 jährlich besucht und stichprobenartig auf die ordnungsgemäße Verbauung der gelieferten Ersatzteile kontrolliert zu haben, und die Beklagte sich für ihre Anforderungen auf den Schutz der gemeinsamen Kunden und die Empfehlungen des Herstellers hätte berufen können. Soweit der Senat in der Vergangenheit im Zusammenhang mit der Beaufsichtigung eines Fachunternehmens entschieden hat, dass der Beaufsichtigung durch das Erfordernis einer vertrauensvollen Zusammenarbeit sowie durch die Selbstständigkeit und Weisungsunabhängigkeit des Fachunternehmens Grenzen gesetzt seien und eine Kontrolle auf Schritt und Tritt nicht verlangt werden könne (vgl. Senatsurteile vom 1. Oktober 2013 – VI ZR 369/12, VersR 2014, 78 Rn. 16; vom 26. September 2006 – VI ZR 166/05, NJW 2006, 3628 Rn. 11; vom 30. September 1986 – VI ZR 274/85, NJW-RR 1987, 147, juris Rn. 8 mwN; Förster in BeckOK BGB, Stand: 1.2.2023, § 823 Rn. 369), lässt sich dies auf den Streitfall nicht übertragen, weil schon nicht festgestellt worden ist, dass von der Beklagten im Zusammenhang mit der Ersatzschlüsselbestellung Verkehrssicherungspflichten auf die UAB delegiert worden wären. Dass insoweit Sachvortrag zu einer Delegation übergangen worden wäre, macht die Revision nicht geltend, auch nicht, dass der UAB als NORA-Kunde aufgrund von Vereinbarungen mit der Beklagten oder der V.        AG eine der Beklagten vergleichbare Prüfungspflicht oblegen hätte. Das Berufungsgericht hat vielmehr unangegriffen festgestellt, dass die UAB – anders als die Beklagte in ihrer Funktion als Vertragshändlerin der V.       AG – nicht befugt war, die Schlüssel direkt von der V.         AG zu beziehen, wodurch die UAB letztlich – auch im Verhältnis zur Beklagten – einem privaten Endkunden gleichgestellt wird. Das etwaige Fehlen unmittelbar einschlägiger Verhaltensempfehlungen der V.       AG für die Auslieferung von Ersatzschlüsseln an NORA-Kunden sowie das Bestehen einer langjährigen Vertrauensbeziehung der Beklagten zur UAB sind hierfür unerheblich.

Danach kann sich die Beklagte – anders als die Revision meint – nicht damit entlasten, dass die der maßgeblichen Verkehrsauffassung zu Prüf- und Kontrollpflichten bei der Ersatzschlüsselbeschaffung und -weitergabe entsprechende Empfehlung der V.       AG zum Verfahren bei fehlenden beziehungsweise defekten Fahrzeugschlüsseln in Kundendienst und Handel verbindliche Regeln nur für den Fall vorsehe, dass der Partner der Vertriebsorganisation den Auftrag zur Beschaffung eines Ersatzschlüssels unmittelbar vom Endabnehmer entgegennehme.“

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