Strafbarer Betrug durch „Scheinbewerbungen“ und Geltendmachung von Ansprüchen nach dem AGG?
Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte über mehrere Taten zu entscheiden, in denen es um „erschlichene“ Ansprüche nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ging (BGH, Beschl. v. 04.05.2022 – 1 StR 138/21).
Im Urteil heißt es zum Sachverhalt wie folgt:
„Der als niedergelassener Rechtsanwalt tätige Angeklagte und sein Bruder, der frühere Mitangeklagte S., fassten im Jahr 2011 den Entschluss, auf der Grundlage von Scheinbewerbungen des früheren Mitangeklagten wiederholt Entschädigungsansprüche nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) geltend zu machen, um den früheren Mitangeklagten zu bereichern und diesem eine Einnahmequelle von einiger Dauer und Erheblichkeit zu verschaffen.
Nach dem Tatplan sollte sich der 42-jährige frühere Mitangeklagte zum Schein auf Stellenangebote bewerben, deren Ausschreibungen aus seiner Sicht Anhaltspunkte für eine Alters- oder sonstige Diskriminierung im Sinne des AGG boten; nach Ablehnung der Bewerbung sollte der Angeklagte die ausschreibenden Unternehmen in seiner Funktion als Rechtsanwalt anschreiben und sie im Namen des früheren Mitangeklagten auffordern, an diesen wegen eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot im Auswahlverfahren eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG in Höhe von mindestens drei Bruttomonatsgehältern zu zahlen. Bei Ausbleiben der Zahlung sollte der behauptete Anspruch in aussichtsreichen Fällen gerichtlich weiter verfolgt werden, um auf diesem Wege die geforderte Entschädigung zu erhalten oder die beklagten Unternehmen zum Abschluss eines Vergleichs zu bewegen; die anfallenden Kosten und Gebühren sollten von einer Rechtsschutzversicherung getragen werden, die der frühere Mitangeklagte zur Begehung der Taten abgeschlossen hatte, um kein finanzielles Risiko zu tragen.
Sowohl der Angeklagte als auch sein Bruder hielten es für möglich und nahmen billigend in Kauf, dass ein Anspruch auf Entschädigung auf der Grundlage einer bloßen Scheinbewerbung tatsächlich nicht bestand.“
Die Verurteilung wegen Betruges durch die Vorinstanz beanstandet der BGH wie folgt:
„1. In den Fällen C. II. 2, 3 und 8 der Urteilsgründe kann der Schuldspruch wegen vollendeten Betruges keinen Bestand haben, weil eine Täuschung durch den Angeklagten nicht festgestellt ist.
a) Die Täuschungshandlung besteht nach dem Wortlaut des Gesetzes in der Vorspiegelung falscher oder in der Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen. Täuschung ist danach jedes Verhalten, das objektiv irreführt oder einen Irrtum unterhält und damit auf die Vorstellung eines anderen einwirkt (BGH, Beschluss vom 25. November 2003 – 4 StR 239/03, BGHSt 49, 17, 21). Dabei ist allgemein anerkannt, dass – außer durch eine ausdrückliche Erklärung – eine Täuschung im Sinne von § 263 Abs. 1 StGB auch konkludent erfolgen kann, insbesondere durch irreführendes Verhalten, das nach der Verkehrsanschauung als stillschweigende Erklärung zu verstehen ist; davon ist auszugehen, wenn der Täter die Unwahrheit zwar nicht expressis verbis zum Ausdruck bringt, sie aber nach der Verkehrsanschauung durch sein Verhalten miterklärt (vgl. nur BGH, Urteil vom 26. April 2001 – 4 StR 439/00, BGHSt 47, 1, 3).
Welcher Inhalt der (ausdrücklichen oder konkludenten) Erklärung zukommt, bestimmt sich ganz wesentlich durch den Empfängerhorizont und die Erwartungen der Beteiligten. In aller Regel muss der Inhalt konkludenter Kommunikation deshalb auch unter Bezugnahme auf die Verkehrsanschauung und den rechtlichen Rahmen bestimmt werden, von denen die Erwartungen der Kommunikationspartner ersichtlich geprägt sind. Bei der Ermittlung des Erklärungswertes eines konkreten Verhaltens sind sowohl faktische als auch normative Gesichtspunkte zu berücksichtigen (BGH, Urteil vom 15. Dezember 2006 – 5 StR 181/06, BGHSt 51, 165 Rn. 20 mwN).
Allerdings kann auch in der Geltendmachung einer Forderung, auf die kein Anspruch besteht, eine schlüssige Täuschung über Tatsachen liegen (vgl. BGH, Beschluss vom 14. März 2019 – 4 StR 426/18 Rn. 13; Urteil vom 22. Februar 2017 – 2 StR 573/15 Rn. 18). Denn der Verkehr erwartet in diesem Zusammenhang vor allem eine wahrheitsgemäße Darstellung, soweit die Tatsache wesentlich für die Beurteilung des Anspruchs ist und der Adressat sie aus seiner Situation nicht ohne Weiteres überprüfen kann (vgl. BGH, Urteile vom 19. August 2020 – 5 StR 558/19, BGHSt 65, 110 Rn. 22 und vom 10. Dezember 2014 – 5 StR 405/13 Rn. 11; Beschlüsse vom 25. Juli 2017 – 5 StR 46/17 Rn. 44; vom 9. Juni 2009 – 5 StR 394/08 Rn. 16 und vom 6. September 2001 – 5 StR 318/01 Rn. 6). Dagegen sind bloße Werturteile, seien es Rechtsauffassungen, Meinungsäußerungen oder reklamehafte Anpreisungen grundsätzlich keine Tatsachen im Sinne des § 263 StGB (BGH, Beschluss vom 26. August 2003 – 5 StR 145/03, BGHSt 48, 331, 344). Die Annahme einer schlüssigen Täuschung setzt daher voraus, dass mit dem Einfordern einer Leistung ein Bezug zu einer unzutreffenden Tatsachenbasis hergestellt oder das Vorliegen eines den Anspruch begründenden Sachverhalts behauptet wird. Wann der Rechtsverkehr der Geltendmachung einer Forderung schlüssig zugleich die Behauptung bestimmter anspruchsbegründender Tatsachen beimisst, ist Tatfrage (BGH, Beschluss vom 14. März 2019 – 4 StR 426/18 Rn. 13; Urteil vom 22. Februar 2017 – 2 StR 573/15 Rn. 18).
b) An diesen Grundsätzen gemessen hat der Angeklagte mit dem Versenden der außergerichtlichen Aufforderungsschreiben nicht über die fehlende subjektive Ernsthaftigkeit der Bewerbung getäuscht; es mangelt an einer konkludent erklärten unwahren Tatsachenbehauptung.
(…)
2. Der Schuldspruch wegen vollendeten Betruges in den Fällen C. II. 2 und 8 der Urteilsgründe kann auch deshalb keinen Bestand haben, weil die Feststellungen des Landgerichts, nach denen die getäuschten Personen einem Irrtum über die Ernsthaftigkeit der Bewerbung unterlagen und aufgrund dieses Irrtums dem Prozessvergleich zustimmten, auch eingedenk des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. BGH, Urteil vom 11. Januar 2022 – 1 StR 371/21 Rn. 7; Beschluss vom 31. Mai 2021 – 1 StR 125/21 Rn. 7; jeweils mwN) beweiswürdigend nicht tragfähig belegt ist.
a) Nach den Feststellungen zum Fall C. II. 2 der Urteilsgründe ermächtigte der vom Angeklagten getäuschte Zeuge M. als Geschäftsführer des beklagten Unternehmens den von ihm beauftragten Rechtsanwalt zum Abschluss eines Prozessvergleichs aus wirtschaftlichen Erwägungen „im Vertrauen auf die subjektive Ernsthaftigkeit der Bewerbung“ (UA S. 19). In seiner Beweiswürdigung führt das Landgericht dazu aus, der glaubhaft aussagende Zeuge M. habe angegeben, dass er das Gefühl gehabt habe, dass die Bewerbung nicht ernsthaft gewesen sein könnte und auch mit seinem Rechtsanwalt über die fehlende Ernsthaftigkeit gesprochen habe. Man sei sich jedoch einig gewesen, dass man diese nicht nachweisen könne; er habe daher ein Prozessrisiko gesehen und deshalb dem Vergleich aus wirtschaftlichen Erwägungen zugestimmt (UA S. 98). Mit diesen Angaben ist jedoch entgegen der Wertung des Landgerichts gerade nicht belegt, dass der Zeuge seine als Vermögensverfügung wirkende Zustimmung zum Vergleich aufgrund eines Irrtums erteilte und dabei „mangels ausreichender entgegenstehender Argumente von einer subjektiv ernsthaften Bewerbung“ ausging (UA S. 101).
b) Zum Fall C. II. 8 der Urteilsgründe hat das Landgericht festgestellt, dass die Zeugin K. als bevollmächtigte Vertreterin des vom früheren Mitangeklagten wegen behaupteter Diskriminierung beklagten Landratsamts L. einem Prozessvergleich zustimmte, weil sie sich über die subjektive Ernsthaftigkeit der Bewerbung irrte (UA S. 30). Nach den Urteilsausführungen gab die Zeugin in ihrer Vernehmung jedoch an, sich über die Ernsthaftigkeit der Bewerbung keine Gedanken gemacht zu haben (UA S. 133). Entgegen der Wertung des Landgerichts ist mit dieser Aussage ein Irrtum wiederum nicht belegt; denn das in der Aussage der Zeugin zum Ausdruck kommende gänzliche Fehlen einer Vorstellung begründet keinen Irrtum (vgl. BGH, Urteil vom 24. April 1952 – 4 StR 854/51, BGHSt 2, 325, 326); auch ein – grundsätzlich ausreichendes – gedankliches Mitbewusstsein (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Januar 2012 – 1 StR 45/11, BGHSt 57, 95 Rn. 69) ergibt sich hieraus nicht.
3. Schließlich unterliegt das Urteil auch in den übrigen Fällen (Fälle C. II. 1, 4 bis 7 sowie 9 bis 12 der Urteilsgründe) der Aufhebung, in denen das Landgericht keinen vollendeten, sondern einen versuchten Betrug angenommen hat. Die vom Landgericht getroffene Feststellung, der Angeklagte sei der Auffassung gewesen, mit der Übersendung der außergerichtlichen Aufforderungsschreiben bereits alles Erforderliche getan zu haben und habe damit unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt, ist beweiswürdigend nicht hinreichend begründet.
a) Nach den allgemeinen Grundsätzen zur Abgrenzung von Vorbereitungshandlungen zum strafbaren Versuch liegt ein unmittelbares Ansetzen bei solchen Handlungen vor, die nach der Vorstellung des Täters in ungestörtem Fortgang unmittelbar zur Tatbestandserfüllung führen oder mit ihr in einem unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen. Dies ist der Fall, wenn der Täter subjektiv die Schwelle zum „Jetzt geht es los“ überschreitet, es eines weiteren Willensimpulses nicht mehr bedarf und er objektiv zur tatbestandsmäßigen Angriffshandlung ansetzt, so dass sein Tun ohne Zwischenakte in die Erfüllung des Tatbestandes übergeht, wobei auf die strukturellen Besonderheiten der jeweiligen Tatbestände Bedacht zu nehmen ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 11. August 2011 – 2 StR 91/11 Rn. 8).
Zwar genügt es regelmäßig zur Überschreitung der für den Versuchsbeginn maßgeblichen Schwelle, wenn ein Täter bereits ein Merkmal des gesetzlichen Tatbestandes verwirklicht hat (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 20. September 2016 – 2 StR 43/16 Rn. 4). Dies gilt allerdings nicht ohne Ausnahme. Handelt es sich bei einem Betrug um ein mehraktiges Geschehen, so ist erst diejenige Täuschungshandlung maßgeblich, die den Getäuschten unmittelbar zur irrtumsbedingten Vermögensverfügung bestimmen und den Vermögensschaden herbeiführen soll; entscheidend ist, ob die Täuschung ohne weitere wesentliche Zwischenschritte in die angestrebte Vermögensverschiebung mündet oder diese nur vorbereitet (vgl. BGH, Urteil vom 9. Mai 2017 – 1 StR 265/16 Rn. 95; Beschluss vom 12. Januar 2011 – 1 StR 540/10 Rn. 7).
b) Hieran gemessen erweist sich die Beweiswürdigung der Strafkammer als widersprüchlich und lückenhaft und damit als durchgreifend rechtsfehlerhaft.
aa) Soweit das Landgericht zur Begründung seiner Überzeugung, der Angeklagte sei bereits bei der außergerichtlichen Geltendmachung der Ansprüche davon ausgegangen, die angeschriebenen Unternehmen werden die Entschädigung jedenfalls teilweise zahlen, darauf abgestellt hat, dass der Angeklagte im Rahmen von einigen Vergleichsverhandlungen angedroht habe, den Rechtsstreit bis zum Bundesarbeitsgericht oder sogar bis zum Bundesverfassungsgericht „hochzutreiben“, um die Gegenseite zum Abschluss eines Vergleichs zu bewegen (UA S. 163), verkennt es, dass es diese zeitlich nachgelagerten Aspekte zum Beleg der Vorstellung des Angeklagten beim Versenden der außergerichtlichen Schreiben nicht hätte heranziehen dürfen.
bb) Unabhängig davon ist die Beweiswürdigung des Landgerichts auch deswegen rechtsfehlerhaft, weil es nicht erörtert hat, dass die außergerichtliche Zahlungsaufforderung in keinem der verfahrensgegenständlichen Fälle zu einer Entschädigungszahlung geführt hat. Diesen Umstand hätte das Landgericht zwingend in seine Würdigung einstellen müssen, da ansonsten offenbleibt, warum der Angeklagte gleichwohl in allen Fällen davon ausgegangen ist, die Übersendung des außergerichtlichen Schreibens genüge bereits, um die hierzu aufgeforderten Unternehmen zu einer Entschädigungszahlung zu veranlassen. Zu einer eingehenderen Auseinandersetzung hätte sich das Landgericht auch deshalb gedrängt sehen müssen, weil es sich bei den angeschriebenen Unternehmen um professionelle Marktteilnehmer mit einer Vielzahl von Mitarbeitern handelt und es auch vor diesem Hintergrund jedenfalls nicht naheliegt, dass der Angeklagte geglaubt hat, dass es keiner weiteren (Zwischen-)Schritte bedarf.
cc) Darüber hinaus hat es das Landgericht rechtsfehlerhaft unterlassen, die konkreten Umstände des Einzelfalls in seine Überzeugungsbildung einzustellen und in ihrer Gesamtheit zu würdigen. Als weitere beweiserhebliche Umstände hätte das Landgericht insoweit in den Blick nehmen müssen, dass der frühere Mitangeklagte sich auf Stellen bewarb, die nicht seinem Profil entsprachen, sein Verhalten im Rahmen des Bewerbungsprozesses – entsprechend dem festgestellten Tatplan – darauf ausgerichtet war, eine Absage zu erhalten und er diese im Einzelfall sogar provozierte. Schließlich lässt das Urteil Ausführungen zu der Frage vermissen, wie es sich auf die Vorstellung des Angeklagten ausgewirkt hat, dass das unter dem Stichwort ´AGG-Hopper´ diskutierte Phänomen missbräuchlicher Entschädigungsansprüche den Marktteilnehmern durchaus bekannt war.“