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Rein medikamentöse Behandlung einer Schizophrenie ist grob fehlerhaft

Rein medikamentöse Behandlung einer Schizophrenie ist grob fehlerhaft
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16.10.2023 — zuletzt aktualisiert: 16.05.2024

Rein medikamentöse Behandlung einer Schizophrenie ist grob fehlerhaft

Das Oberlandesgericht hat in den Entscheidungsgründen einer Rechtsache, die im Kern einen ärztlichen Behandlungsfehler zum Gegenstand hatte, wie folgt ausgeführt (OLG Hamburg, Urt. v. 17.03.2023 – 1 U 78/22):

„(…) Nach dem Vortrag des Klägers wurde zwischen den Parteien der als Anlage K 1 vorgelegte Behandlungsvertrag geschlossen, auf den er seinen Anspruch stützt (S. 3 und 8 der Klagschrift, Bl. 31 und 36 d.A.). Dem ist die Beklagte nicht entgegengetreten. Sie hat auch keine Einwände gegen die Wirksamkeit des Behandlungsvertrags erhoben. Dann aber ist im vorliegenden Fall vom Bestehen eines zivilrechtlichen Streitgegenstands und einer zivilrechtlichen Haftungsgrundlage auszugehen, für die eine Passivlegitimation der Beklagten besteht.

Im Hinblick auf das Fehlen nicht-medikamentöser Behandlungsangebote entsprach die Behandlung des Klägers nicht den seinerzeit bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards und war damit pflichtwidrig. Davon ist das Landgericht ausgegangen (S. 6 des angefochtenen Urteils, Bl. 484 d.A.) und dies nimmt auch der Senat an.

Wie bereits das Landgericht stützt sich der Senat bei dieser Feststellung auf die überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. K… H…. Der Sachverständige ist als Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und forensische Psychiatrie fachlich kompetent für die Beurteilung der Behandlung eines psychiatrischen Patienten wie dem Kläger. Aufgrund seiner Tätigkeit als stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Präventivmedizin am LWL-Universitätsklinikum … verfügt der Sachverständige sowohl über eine wissenschaftliche Expertise als auch über praktische Erfahrungen, die ihn in besonderer Weise zur Beantwortung der an ihn gerichteten Beweisfragen qualifizieren. Seine Ausführungen im Rahmen seines in erster Instanz erstatteten schriftlichen Gutachtens vom 04.06.2021 (Bl. 205 ff. d.A.) und seiner Anhörung durch den Senat in der mündlichen Verhandlung vom 08.02.2023 (S. 2 ff. des Protokolls, Bl. 584 R ff. d.A.) waren verständlich und einleuchtend. Auf dieser Grundlage sind die folgenden Feststellungen zu treffen:

Die Behandlung des Klägers erfolgte aufgrund der – vom Sachverständigen nicht in Zweifel gezogenen (S. 46 des schriftlichen Gutachtens, Bl. 250 d.A.) – Diagnose einer akut exazerbierten paranoiden Schizophrenie. Es entsprach bereits im Jahre 2016 dem medizinischen Standard, einem Patienten mit einer solchen Erkrankung neben der indizierten und im vorliegenden Fall erfolgten Gabe von Psychopharmaka auch nicht-medikamentöse Behandlungsangebote zu unterbreiten. Zu einer standardgemäßen multimodalen Behandlung gehören psychiatrische Einzelgespräche, Psychoedukation und Co-Therapien wie Ergotherapie, Bewegungstherapie und unter Umständen auch Soziotherapie (S. 2 f. des Protokolls, Bl. 584 R f. d.A.; S. 54 f., 57 des schriftlichen Gutachtens, Bl. 258 f., 261 d.A.).

Derartige nicht-medikamentöse Behandlungsangebote erhielt der Kläger im Verlauf der streitbefangenen Behandlung nicht.

Insbesondere wurden mit ihm keine psychiatrischen Einzelgespräche geführt. Man versteht darunter Gespräche des Patienten mit einem Psychiater, die in der Regel einmal pro Woche stattfinden, 20 bis 50 Minuten dauern und in der hier in Rede stehenden Akutphase der Erkrankung insbesondere darauf gerichtet sind, ein Krankheitsverständnis zu wecken, psychosoziale Belastungsfaktoren bzw. sonstige Risikofaktoren, welche zu der Exazeberation geführt haben, zu identifizieren und auszuloten sowie die Medikation zu besprechen (S. 3 des Protokolls, Bl. 585 d.A.). Derartige Einzelgespräche sind aus ärztlicher Sicht zu dokumentieren (S. 4 des Protokolls, Bl. 585 R d.A.). Entsprechende Eintragungen sind den Behandlungsunterlagen nicht zu entnehmen, was gemäß § 630h Abs. 3 BGB die Vermutung begründet, dass solche Maßnahmen nicht stattgefunden haben. Dem Parteivortrag lässt sich nichts entnehmen, was diese Vermutung widerlegen könnte. Das Gegenteil ist der Fall. Der als Anlage K 4 vorgelegte Vermerk betreffend die betreuungsgerichtliche Anhörung des Klägers am 19.09.2016 enthält die Aussage der Stationsärztin, Frau S… V…, die erklärt hat, dass auf der sog. Aufnahmestation, auf der sich der Kläger befand, keine Behandlungsgespräche geführt würden, sondern dass sich der ärztliche Kontakt auf die Visiten beschränke, die dreimal pro Woche stattfänden (S. 9 der Anlage K 4). In den Visiten könnten Fragen gestellt werden, die den Kläger bewegten. Im Übrigen erhalte der Kläger eine medikamentöse Stabilisierung, das sei die Behandlung (S. 10 der Anlage K 4). Mangels gegenteiliger Anhaltspunkte ist davon auszugehen, dass diese Darstellung der Behandlungswirklichkeit im Hause der Beklagten entsprach. Wie der Sachverständige erläutert hat, sind die von der Stationsärztin beschriebenen Visiten nicht ausreichend, schon weil dabei alle Patienten auf der betreffenden Station angesprochen werden müssen und daher naturgemäß zu wenig Zeit für ein Eingehen auf den einzelnen Patienten verbleibt. Die gebotenen psychiatrischen Einzelgespräche sind dadurch nicht zu ersetzen (S. 4 und 9 des Protokolls, Bl. 585 R und 588 d.A.).

Eine Psychoedukation wurde dem Kläger unstreitig nicht angeboten und fand dementsprechend ebenfalls nicht statt. Man versteht darunter eine systematische didaktisch-psychotherapeutische Intervention, mit deren Hilfe eine nachhaltige Behandlungsbereitschaft aufgebaut werden soll, indem Wissen über Psychosen und ihre (medikamentöse) Behandlung vermittelt wird (S. 54 des schriftlichen Gutachtens, Bl. 258 d.A.).

Unstreitig erhielt der Kläger ferner keine co-therapeutischen Behandlungsangebote wie Bewegungstherapie oder Musiktherapie. Nach seinen unwidersprochenen Angaben (S. 7 der Klagschrift, Bl. 35 d.A.), die durch die Anlage K 7 belegt sind, wurden solche Therapiemöglichkeiten in der H S Klinik in … zwar vorgehalten, der Kläger durfte daran aber nicht teilnehmen, weil er auf der geschlossenen Aufnahmestation untergebracht war.

Es kann nicht einmal festgestellt werden, dass der Kläger an einer standardgemäßen Ergotherapie hätte partizipieren können. In den Behandlungsunterlagen finden sich zwar Hinweise auf eine Ergotherapie. Insbesondere ist dort eine – nicht unterschriebene – Bescheinigung mit Datum vom 15.09.2016 abgeheftet, in der erklärt wird: „Außer der Ergotherapie, werktags, hat er keine andere Behandlung bekommen, insbesondere auch keine ärztlichen Gespräche.“ Ferner heißt es in einem Vermerk über eine „OA-Visite“ vom 19.08.2016: „Pat. berichtet pos. von Ergo …“. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Dokumentation einer regelmäßigen, dem medizinischen Standard entsprechenden Ergotherapie, wie sie aus ärztlicher Sicht erforderlich gewesen wäre. Zu einer ordnungsgemäßen Dokumentation einer durchgeführten Ergotherapie gehört die Darstellung, was genau gemacht worden ist (S. 4 des Protokolls, Bl. 585 R d.A.). Eine solche Beschreibung ist den Behandlungsunterlagen nicht zu entnehmen (S. 4 des Protokolls, Bl. 585 R d.A.). Auch insofern ist somit gemäß § 630h Abs. 3 BGB zu vermuten, dass es kein dem Standard entsprechendes Angebot einer Ergotherapie gab. Diese Vermutung ist ebenfalls nicht widerlegt.“

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Dr. Stefan Müller-Thele
Rechtsanwalt

Mail: koeln@etl-rechtsanwaelte.de


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