Ist die Haftung für die Folgen eines Verkehrsunfalles ausgeschlossen, wenn ein Unfallbeteiligter beim Rückwärtsfahren die Warnblinkleuchten anschaltet?
Nein, meint das Landgericht (LG) Lübeck (LG Lübeck, Urt. v. 14.11.2023 – 9 O 13/23).
In den Entscheidungsgründen des Urteils heißt es:
„(…) Die Klägerin hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Zahlung in Höhe von 8.625,76 € gemäß §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, 17 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 VVG.
(…) Der Unfall ereignete sich bei dem Betrieb des Beklagtenfahrzeugs. Er wurde auch nicht durch höhere Gewalt i.S.d. § 7 Abs. 2 StVG verursacht.
(…) Bei der Abwägung der Verschuldensbeiträge nach § 17 StVG war von einer Haftung der Beklagtenseite in Höhe von 60% und der Klägerseite in Höhe von 40% auszugehen.
Für die Beurteilung der Verursachungsbeiträge ist nach § 17 Abs. 1 StVG auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles abzustellen. Bei der Abwägung sind lediglich unstreitige, zugestandene oder bewiesene Umstände zu berücksichtigen. Jeder Halter hat dabei grundsätzlich die Umstände zu beweisen, welche dem anderen zum Verschulden reichen und aus denen er für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will (…).
(…) Auf Seiten der Beklagten liegt ein Verstoß gegen § 9 Abs. 5 StVO vor. Hiernach muss sich der Fahrzeugführer beim Rückwärtsfahren so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Erforderlichenfalls muss sich der Fahrzeugführer von einer anderen Person einweisen lassen. Für einen solchen Verstoß spricht bereits der Beweis des ersten Anscheins. Dieser ist gegeben, wenn es in einem engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Rückwärtsfahren zu einem Zusammenstoß kommt (…).
Vorliegend kam es unmittelbar bei dem Rückwärtsfahren zu einem Zusammenstoß, sodass der Beweis des ersten Anscheins vorliegt.
Dieser konnte durch die Beklagtenseite auch nicht erschüttert werden. Dies wäre nur der Fall, wenn bewiesene Tatsachen vorliegen würden, die die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs als den nach der allgemeinen Erfahrung typischen ergeben können (…).
Der Beklagte zu 2) trägt zwar vor, dass er die Warnblinkleuchten angeschaltet hatte und somit erkennbar war, dass er rangieren wollte. Jedoch besteht trotz dessen die Anforderung, sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Dies kann nicht allein durch angeschaltete Warnblinkleuchten garantiert werden. Nur ein vom Fahrer aus sichtbarer oder mindestens von einer Hilfsperson beobachteter und dem Fahrer mitgeteilter, also mit Gewissheit freier Raum, darf rückwärts befahren werden (…). Es wäre somit erforderlich gewesen, den vorbeifahrenden Verkehr so ausgiebig zu beobachten, dass ausgeschlossen ist, dass sich ein Fahrzeug in den rückwärts zu befahrenden Bereich befindet. Dies hat der Beklagte zu 2) jedoch nicht getan. Er nahm das klägerische Fahrzeug zwar wahr, ging dann aber, als er dieses nicht mehr sehen konnte, davon aus, dass das Fahrzeugs wohl an ihm vorbeigefahren sei. Er hätte sich vergewissern müssen, dass sich kein Hindernis im toten Winkel seines Fahrzeugs befindet (…).
Dem Zeugen …, der das klägerische Fahrzeug zum Unfallzeitpunkt gefahren ist, ist jedoch vorzuwerfen, dass er sich trotz unklarer Verkehrssituation an dem Lkw vorbeigetastet hat und daher zumindest gegen die allgemeine Sorgfaltspflicht nach § 1 StVO verstoßen hat. Nach dieser Vorschrift hat sich ein Verkehrsteilnehmer so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist das Gericht zwar nicht ausreichend davon überzeugt, dass an dem Lkw Warnblinker und Rundumleuchten angeschaltet waren, für das Gericht steht jedoch zur Überzeugung fest, dass der Zeuge … nicht die hinreichende Sorgfalt beachtet hat, als er um den Lkw gefahren ist.
So ergibt sich bereits aus dem klägerischen Vortrag, dass der Zeuge … um den LKW herumgefahren war. Der Zeuge … bekundete dazu, dass sich der LKW zunächst quer gestellt habe. Es sei nicht ersichtlich gewesen, was der LKW machen wollte. Als dann irgendwann ersichtlich wurde, dass der LKW rückwärts in die Straße fahren wollte, sei es schon zu spät gewesen. Warnblinklichter habe er nicht wahrgenommen.
Diese Angaben wurden bestätigt durch die Bekundungen des Zeugen …, welcher angab, dass der Zeuge … den LKW umfahren wollte. Als er an dem LKW vorbeigefahren sei, habe er zunächst angehalten, dann sei es zur Kollision gekommen. Diese habe sich im Einmündungsbereich der Straßen befunden. Passend zu diesen Angaben fertigte der Zeuge ebenfalls eine Skizze an, auf der zu sehen ist, dass das klägerische Fahrzeug bereits ein Stück an dem LKW vorbeigefahren war. Ein Warnblinklicht sei nicht angeschaltet gewesen.
Die Zeugin … bekundete darüber hinaus, dass der LKW eher schräg auf der Straße stand und sie sich noch gefragt habe, ob der LKW sich verfahren habe. Es sei ihr nicht aufgefallen, dass an dem Beklagtenfahrzeug Warnblinklichter oder ähnliches geleuchtet hätten. Die Zeugin gab an, dass ihr diese aus ihrer Sicht hätten auffallen müssen. Die Angaben der Zeugen sind sämtlich widerspruchsfrei und nachvollziehbar und daher glaubhaft. Anhaltspunkte, welche an der Glaubwürdigkeit der Zeugen zweifeln ließen liegen – auch wenn es sich bei dem Zeugen … um den Fahrer des klägerischen Fahrzeugs handelte – nicht vor.
Der Zeuge … bekundete zwar, dass nach seiner Erinnerung der Lkw das Warnblinklicht eingeschaltet hatte. Diese Aussage ist zwar widerspruchsfrei und nachvollziehbar, war jedoch nicht geeignet, das Gericht entgegen der Angaben der anderen Zeugen davon zu überzeugen, dass das Warnblinklicht tatsächlich angeschaltet war. Darüber hinaus hat der Zeuge die tatsächliche Kollision nicht wahrgenommen.
Aus den Angaben ergibt sich, dass der Zeuge … zum einen um den LKW herumgefahren ist, obwohl er selbst angab, dass zunächst nicht absehbar war, was der LKW vorhatte. Darüber hinaus ergibt sich aus den Zeugenaussagen auch, dass der Zeuge … nicht normal in die Straße „…“ auf der rechten Fahrspur einbiegen wollte, sondern den LKW zunächst umfahren und somit in die Straße „…“ zunächst auf der Gegenfahrbahn einbiegen zu wollen. Dies ergibt sich insbesondere auch aus der Skizze des Zeugen …, der die Position des klägerischen Fahrzeugs zum Zeitpunkt der Kollision einzeichnete. Dies deckt sich auch mit der Skizze, welche der Beklagte zu 2) angefertigt hat (Anlagen zum Protokoll der mündlichen Verhandlung).
Nach der nach § 17 StVG gebotenen Abwägung der Verursachungsbeiträge hält das Gericht eine Haftungsverteilung von 60% zu Lasten der Beklagten und zu 40% zu Lasten der Klägerin für gerechtfertigt. § 17 StVG hat sich die Klägerin das Mitverschulden des Zeugen … entgegenhalten zu lassen. Durch ein unfallursächliches Mitverschulden eines Fahrers erhöht sich die Betriebsgefahr des Fahrzeugs. Da es hierbei auch nicht darauf ankommt, ob der Fahrer selbst der Halter ist, erfolgt auf diese Weise eine Zurechnung des Verschuldens des Fahrers auf den Halter, die insoweit eine Haftungseinheit bilden (…). Die Ursache für die Kollision wurde hier sowohl von der Beklagtenseite, als auch von dem Zeugen … gesetzt. Dem Lkw-Fahrer fällt ein Verstoß gegen § 9 StVO zur Last, welcher etwas schwerer wiegt als der Verstoß des Zeugen … gegen die allgemeine Vorsichts- und Rücksichtnahmepflicht. Bei der Haftungsverteilung war auch zu berücksichtigen, dass es sich bei einem LKW aufgrund dessen Unübersichtlichkeit um ein Fahrzeug handelt, welchem eine höhere Betriebsgefahr als dem Pkw auf Klägerseite zuzuschreiben ist.
Ein vollständiges zurücktreten des Verstoßes des Klägers war nicht nach § 17 Abs. 3 StVG anzunehmen, da der Unfall für ihn – selbst bei der Unterstellung, dass das Fahrzeug des Klägers zum Zeitpunkt der Kollision gestanden hat – vermeidbar war. Als unabwendbar gilt ein Ereignis nach § 17 Abs. 3 S. 2 StVG nur dann, wenn sowohl der Halter als auch der Führer des Kraftfahrzeugs jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet hat. Gemäß den obigen Ausführungen hat der Zeuge … aber gerade nicht die gebotene Sorgfalt beachtet, sich demnach nicht wie ein Idealfahrer verhalten. Hierbei kommt es allerdings nicht nur darauf an, wie ein „Idealfahrer“ in der konkreten Gefahrensituation reagiert hätte, sondern auch darauf, ob ein „Idealfahrer“ überhaupt in eine solche Gefahrenlage geraten wäre (…). Ein Idealfahrer hätte in einer solchen Situation entweder vor dem Einmündungsbereich der Straße mit angeschaltetem Blinker gewartet, bis der LKW aus dem Einmündungsbereich weggefahren wäre oder hätte Kontakt zu dem LKW-Fahrer aufgenommen, um sicherzugehen, ob der LKW dort stehen bleibt. Beides ist hier nicht passiert.“