Gibt es für ein ungeborenes Kind (sog. Nasciturus) einen Anspruch auf Hinterbliebenengeld nach § 844 Abs. 2 Satz 2 BGB analog?
Nein, meint das Oberlandesgericht (OLG) München (OLG München, Urt. v. 05.08.2021 – 24 U 5354/20, NJW-Spezial 2021, 586 f.). In den Entscheidungsgründen heißt es:
„2. Der Klägerin steht auch kein Hinterbliebenengeld gemäß § 844 Abs. 3 BGB, §§ 7 Abs. 1, 10 Abs. 3 StVG i. V. m. § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG, § 1 PflVG zu.
a) Einem Anspruch aus § 844 Abs. 3 BGB steht entgegen, dass die Klägerin sowohl zur Zeit des schädigenden Ereignisses als auch beim Schadenseintritt noch nicht geboren war.
aa) Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt gemäß § 1 BGB mit der Vollendung der Geburt. Das Gesetz spricht dem zur Zeit der Verletzungshandlung noch ungeborenen Kind nur ausnahmsweise Ansprüche zu, zum Beispiel in § 844 Abs. 2 S. 2 BGB für den
Unterhaltsanspruch. Auch bei § 1923 Abs. 2 BGB, der die Erbfähigkeit des bereits Gezeugten fingiert, handelt es sich um eine Ausnahmevorschrift.
bb) Aus der Rechtsprechung, wonach der Schädiger grundsätzlich auch einem im Mutterleib geschädigten und daraufhin mit einem Gesundheitsschaden zur Welt gekommenen Kind auf Schadensersatz haftet (BGH, Urteil vom 05.02.1985 – VI ZR 198/83 -, BGHZ 93, 351-358 = NJW 1985, 1390), kann ein Anspruch des Nasciturus auf Hinterbliebenengeld nicht hergeleitet werden. In den von dieser Rechtsprechung erfassten Fällen geht es jeweils um einen eigenen körperlichen Schaden des mit einer Schädigung zur Welt gekommenen Kindes, die durch ein Schadensereignis vor seiner Geburt verursacht worden ist. Im vorliegenden Fall lag demgegenüber eine körperliche Schädigung nur bei dem durch Unfall getöteten Vater der Klägerin vor, während für die Klägerin (neben dem unstreitig bestehenden Anspruch aus § 844 Abs. 2 BGB) nur ein immaterieller Schadensersatzanspruch in Betracht kommt.
cc) Einer analogen Anwendung von § 844 Abs. 2 S. 2 BGB zur Begründung eines Anspruchs des ungeborenen Kindes auf Hinterbliebenengeld steht bereits entgegen, dass § 844 Abs. 2 Satz 2 BGB eine Sonderregelung für unterhaltsrechtliche Ansprüche enthält. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Gesetzgeber das ungeborene Kind bei der Einführung des Hinterbliebenengeldes planwidrig übersehen hat, zumal sich die in Betracht kommende Regelung im selben Paragraphen des BGB befindet.“