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Krankheit (SGB V)
Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen hat entschieden (LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 10.07.2017 – L 16 KR 13/17):
„Gemäß § 27 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst u.a. ärztliche Behandlung einschließlich Psychotherapie und Krankenhausbehandlung (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 5 SGB V). Nach § 12 Abs. 1 SGB V müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein, sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.
Voraussetzung für einen Sachleistungsanspruch nach § 27 SGB V ist das Vorliegen einer behandlungsbedürftigen Krankheit. Nach der ständiger Rechtsprechung des BSG ist unter Krankheit ein regelwidriger körperlicher oder geistiger Zustand zu verstehen, der entweder Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit oder beides zur Folge hat (BSG, SozR 4-2500 § 27 Nr. 20 Rdnr. 10). Es handelt sich um einen rechtlichen Zweckbegriff (vgl. Nolte, Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Band 1, Stand: September 2013, § 27 Rdnr. 9 ff.). Der Krankheitsbegriff ist von dem medizinischen Krankheitsbegriff zu unterscheiden, wonach Krankheit eine Erkrankung mit bestimmten Symptomen und Ursachen ist. Auch auf die Krankheitsursache kommt es grundsätzlich nicht an (Nolte, aaO., Rdnr. 10, 11 m.w.N.). Eine Krankheit im Rechtssinne verlangt eine erhebliche Abweichung vom idealen Zustand. Geringfügige Störungen, die keine wesentlichen funktionellen Beeinträchtigungen zur Folge haben, reichen nicht aus. Abweichungen von einer morphologisch idealen Norm, die noch befriedigende körperliche oder psychische Funktionen zulassen, sind keine Krankheit. Für die Feststellung der Regelwidrigkeit ist vom Leitbild des gesunden Menschen auszugehen, der zur Ausübung der normalen körperlichen und psychischen Funktionen in der Lage ist. Eine Abweichung von dieser Norm führt zur Regelwidrigkeit. Erforderlich ist dabei, dass der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird und diese Funktionsbeeinträchtigung durch die notwendige Krankenbehandlung erkannt, geheilt, gelindert oder ihre Verschlimmerung verhütet wird (BSG, Urteil vom 4. März 2014 – B 1 KR 69/12 R Rdnr. 9 mwN) oder dass er an einer Abweichung leidet, die entstellend wirkt (BSG SozR 4-2500 § 27 Nr. 20 Rdnr. 10). Ein Anspruch auf Krankenbehandlung in Form von Eingriffen in intakte, nicht in ihrer Funktion beeinträchtige Organsysteme kommt als Ausnahmefall nur dann in Betracht, wenn die Abweichung entstellend wirkt (BSG, Urteil vom 4. März 2014, aaO., Rdnr. 12). Demnach kann eine Regelabweichung unabhängig von Funktionsdefiziten dann als Krankheit angesehen werden, wenn eine entstellenden Wirkung vorliegt (BSGE 93, 94 = SozR 4-2500 § 13 Nr. 4 Rdnr. 16; BSG, SozR 4-2500 § 27 Nr. 2 Rdnr. 7). Diese kann nicht durch einen Sachverständigen festgestellt werden, maßgeblich ist vielmehr der unmittelbare Eindruck des Gerichts, den es sich durch Augenschein zu verschaffen hat (BSG SozR 3-1750 § 372 ZPO Nr. 1). Abzustellen ist auf das Erscheinungsbild in üblicher Alltagskleidung, nicht jedoch auf den unbekleideten Zustand.
Kosmetische Beeinträchtigungen sind nicht vollständig ungeeignet zur Begründung einer Krankheit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung, sie müssen aber ein extremes und unzumutbares Ausmaß erreicht haben. Um eine Entstellung annehmen zu können, genügt nicht jede körperliche Anomalität. Vielmehr muss es sich objektiv um eine so erhebliche Auffälligkeit handeln, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit auslöst und die damit zugleich erwarten lässt, dass der Betroffene ständig viele Blicke auf sich zieht, zum Objekt besonderer Beachtung anderer wird und sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzieht und zu vereinsamen droht, sodass die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefährdet ist (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 45 Seite 253 ff.). Um eine Auffälligkeit im Sinne einer Entstellung anzunehmen, muss objektiv eine beachtliche Erheblichkeitsschwelle überschritten sein, es genügt nicht allein die ungewöhnliche Ausgestaltung von Organen, vielmehr muss die körperliche Auffälligkeit in einer solchen Ausprägung vorhanden sein, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen „quasi im Vorbeigehen“ bemerkbar macht und regelmäßig zur Fixierung des Interesses anderer auf den Betroffenen führt (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 45 Seite 253 ff.; BSG, Urteil vom 28. Februar 2008 -1 KR 19/07 R- Rdnr. 13).“
(Letzte Aktualisierung: 21.08.2017)
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