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Familienrecht

Gewöhnlicher Aufenthalt

Siehe hierzu EuGH, Urt. v. 25.11.2021 – C-289/20, NJW 2021, 3771 m. Anm. Mankowski, NJW 2022, 3775:

„Art. 3 Abs. 1 Buchst. a  der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass ein Ehegatte, der sein Leben in zwei Mitgliedstaaten verbringt, seinen gewöhnlichen Aufenthalt nur in einem dieser Mitgliedstaaten haben kann, so dass allein die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sich dieser gewöhnliche Aufenthalt befindet, für die Entscheidung über den Antrag auf Auflösung der Ehe zuständig sind.“

In den Entscheidungsgründen heißt es:

„Nach alledem ist es zwar nicht ausgeschlossen, dass ein Ehegatte im gleichen Zeitraum an mehreren Orten einen Aufenthalt haben kann, doch kann er zu einem bestimmten Zeitpunkt nur einen einzigen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 haben.

Da der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts im Wesentlichen eine Tatsachenfrage darstellt (Urteil vom 8. Juni 2017, OL, C‑111/17 PPU, EU:C:2017:436, Rn. 51), ist es Sache des vorlegenden Gerichts, anhand aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls zu prüfen, ob das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats des von IB angerufenen nationalen Gerichts dem Ort des gewöhnlichen Aufenthalts des Antragstellers im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 entspricht (vgl. entsprechend Urteile vom 2. April 2009, A, C‑523/07, EU:C:2009:225, Rn. 42, und vom 28. Juni 2018, HR, C‑512/17, EU:C:2018:513, Rn. 41).

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Rahmen der Auslegung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 2201/2003 über die elterliche Verantwortung davon ausgegangen ist, dass für die Bestimmung des Ortes des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes, insbesondere eines im Alltag von seinen Eltern abhängigen Kleinkindes, der Ort zu ermitteln ist, wo sich diese dauerhaft aufhalten und in ein soziales und familiäres Umfeld integriert sind; dabei kann auch die Absicht der Eltern, sich so an einem bestimmten Ort niederzulassen, berücksichtigt werden, wenn sie sich in äußeren Umständen manifestiert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Juni 2018, HR, C‑512/17, EU:C:2018:513, Rn. 45 und 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). In dieser Rechtsprechung wird somit das soziale und familiäre Umfeld der Eltern des Kindes, insbesondere eines Kleinkindes, als wesentliches Kriterium für die Bestimmung des Ortes des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes herangezogen.

Zwar stimmen die besonderen Umstände, die den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes kennzeichnen, offensichtlich nicht in jeder Hinsicht mit denen überein, die es ermöglichen, den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts eines Ehegatten im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 zu bestimmen.

So kann ein Ehegatte wegen einer Ehekrise beschließen, den früheren gewöhnlichen Aufenthalt des Ehepaars zu verlassen, um sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem des früheren Aufenthalts niederzulassen und dort unter den in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter oder sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehenen Voraussetzungen einen Antrag auf Auflösung der Ehe zu stellen, wobei es ihm völlig freisteht, eine Reihe sozialer und familiärer Verbindungen im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu behalten, in dem sich der frühere gewöhnliche Aufenthalt des Ehepaars befunden hat.

Außerdem ist im Unterschied zu einem Kind, insbesondere einem Kleinkind, dessen Umfeld im Allgemeinen weitgehend ein familiäres Umfeld ist (vgl. insoweit Urteil vom 22. Dezember 2010, Mercredi, C‑497/10 PPU, EU:C:2010:829, Rn. 54), das Umfeld eines Erwachsenen notwendigerweise vielfältiger und besteht aus einem erheblich breiteren Spektrum von Aktivitäten und mannigfaltigen Interessen, insbesondere beruflicher, soziokultureller, vermögensbezogener, privater und familiärer Art. Insbesondere in Anbetracht des Ziels der Verordnung Nr. 2201/2003, Anträge auf Auflösung der Ehe zu erleichtern, indem flexible Kollisionsregeln eingeführt und die Rechte des Ehegatten geschützt werden, der infolge der Ehekrise den Mitgliedstaat des gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts verlassen hat, kann insoweit nicht verlangt werden, dass sich diese Interessen auf das Hoheitsgebiet eines einzigen Mitgliedstaats konzentrieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Oktober 2016, Mikołajczyk, C‑294/15, EU:C:2016:772, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Gleichwohl lässt die in Rn. 53 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung für die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 die Annahme zu, dass der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ grundsätzlich durch zwei Elemente gekennzeichnet ist, nämlich zum einen durch den Willen des Betroffenen, den gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Lebensinteressen an einen bestimmten Ort zu legen, und zum anderen durch eine hinreichend dauerhafte Anwesenheit im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats.

Daher muss ein Ehegatte, der sich auf den Gerichtsstand nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. a fünfter oder sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 berufen möchte, zwingend seinen gewöhnlichen Aufenthalt in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als dem des früheren gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts verlegt und mithin zum einen den Willen zum Ausdruck gebracht haben, den gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Lebensinteressen in diesem anderen Mitgliedstaat zu errichten, und zum anderen nachgewiesen haben, dass seine Anwesenheit im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats hinreichend dauerhaft ist.

Im vorliegenden Fall steht, wie sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt, fest, dass IB, Staatsangehöriger des Mitgliedstaats, in dem das von ihm angerufene nationale Gericht liegt, das Erfordernis eines mindestens sechsmonatigen Aufenthaltes im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats unmittelbar vor Beantragung der Auflösung der Ehe nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 erfüllt hat. Ferner steht fest, dass IB seit 2017 unter der Woche beständig und dauerhaft eine unbefristete berufliche Tätigkeit in Frankreich ausgeübt hat, wo er für die Ausübung dieser Tätigkeit eine Wohnung genommen hatte.

Dies deutet darauf hin, dass der Aufenthalt von IB im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats dauerhaft ist und zudem zumindest eine Integration des Betroffenen in ein soziales und kulturelles Umfeld in diesem Mitgliedstaat erkennen lässt.

Zwar lassen diese Gesichtspunkte a priori den Schluss zu, dass die in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sein könnten, doch ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob alle tatsächlichen Umstände des Einzelfalls tatsächlich die Annahme zulassen, dass der Betroffene seinen gewöhnlichen Aufenthalt in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats verlegt hat, in dem dieses Gericht liegt.“

(Letzte Aktualisierung: 05.04.2022)

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