Können Betriebe für Altersfreizeit eine steuermindernde Rückstellung bilden?
Ja, meint das Finanzgericht (FG) Köln (FG Köln, Urt. v. 10.11.2022 – 12 K 2486/20). In den Entscheidungsgründen heißt es:
„Nach § 5 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.V.m. § 249 Abs. 1 Satz 1 Handelsgesetzbuch (HGB) als Ausdruck eines handelsrechtlichen Grundsatzes ordnungsmäßiger Buchführung sind für ungewisse Verbindlichkeiten Rückstellungen zu bilden. Zwar dürfen Ansprüche und Verbindlichkeiten aus einem schwebenden Geschäft in der Bilanz grundsätzlich nicht ausgewiesen werden. Ein Bilanzausweis ist u.a. aber dann geboten, wenn das Gleichgewicht der Vertragsbeziehungen durch Vorleistungen oder Erfüllungsrückstände eines Vertragspartners gestört ist (vgl. Beschluss des Großen Senats des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 23. Juni 1997 GrS 2/93, BFHE 183, 199, BStBl II 1997, 735, m.w.N.).
Ein Erfüllungsrückstand liegt hier vor.
Ein Erfüllungsrückstand liegt vor, wenn der Verpflichtete sich mit seinen Leistungen gegenüber seinem Vertragspartner im Rückstand befindet, also weniger geleistet hat, als er nach dem Vertrag für die bis dahin vom Vertragspartner erbrachte Leistung insgesamt zu leisten hatte. Der BFH knüpft den Begriff des Erfüllungsrückstands herkömmlicherweise eng an den schuldrechtlich gebotenen Zeitpunkt der Erfüllung. Darüber hinaus hat er aber auch eine an den wirtschaftlichen Gegebenheiten orientierte Betrachtung genügen lassen, allerdings vorausgesetzt, mit der nach dem Vertrag geschuldeten zukünftigen Leistung wird nicht nur an Vergangenes angeknüpft, sondern Vergangenes abgegolten (BFH, Urteil vom 28. Juli 2004 XI R 63/03, BFHE 207, 205, BStBl II 2006, 866). Wann eine vertragliche Verpflichtung erfüllt ist, bestimmt sich seither auch bei Dauerschuldverhältnissen nicht mehr entscheidend nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts, sondern nach dem wirtschaftlichen Gehalt der geschuldeten (Sach-) Leistung (Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 183, 199, BStBl II 1997, 735, unter B.I.2., m.w.N.). Erfüllungsrückstand setzt nicht die Fälligkeit der vertraglich noch geschuldeten Leistung zum Bilanzstichtag voraus (vgl. hierzu z.B. BFH-Urteile vom 5. Februar 1987 IV R 81/84, BFHE 149, 55, BStBl II 1987, 845; vom 15. Juli 1998 I R 24/96, BFHE 186, 388, BStBl II 1998, 728, m.w.N.; vom 9. Dezember 2009 X R 41/07).
- a) Um eine Rückstellung gewinnmindernd berücksichtigen zu können, muss im Einzelnen danach zunächst eine ungewisse Verbindlichkeit vorliegen, also eine Verbindlichkeit, die dem Grunde und/oder der Höhe nach ungewiss ist. Dies ist der Fall, wenn eine Verbindlichkeit dem Grunde nach besteht oder mit Wahrscheinlichkeit entstehen wird und hinsichtlich der Höhe dieser Verbindlichkeit Ungewissheit besteht. Die Inanspruchnahme aus der Verbindlichkeit muss wahrscheinlich sein (§ 5 Abs. 1 EStG i.V.m. § 249 Abs. 1 HGB; vgl. BFH-Urteile vom 1. August 1984 I R 88/80, BFHE 142, 226, BStBl II 1985, 44; vom 28. Juni 1989 I R 86/85, BFHE 157, 416, BStBl II 1990, 550; vom 5. Februar 1987 IV R 81/84, BFHE 149, 55, BStBl II 1987, 845; vom 19. Mai 1987 VIII R 327/83, BFHE 150, 140, BStBl II 1987, 848; vom 8. Juli 1992 XI R 50/89, BFHE 168, 329, BStBl II 1992, 910, m.w.N.; vom 29. November 2000 I R 31/00, BFHE 194, 76, BStBl II 2004, 41).
Im Streitfall ist eine Verbindlichkeit dem Grunde nach durch den von der Klägerin eingegangenen Manteltarifvertrag für … begründet worden. Dieser Tarifvertrag verpflichtet die Klägerin, die geschuldete Leistung gegenüber ihren Arbeitnehmern zu erfüllen. Dem steht nicht entgegen, dass diese Verpflichtung erst in der Zukunft zu erfüllen ist. Denn auch für eine erst in Zukunft entstehende Verbindlichkeit muss eine Rückstellung gebildet werden (BFH-Urteile vom 23. September 1969 I R 22/66, BFHE 97, 164, BStBl II 1970, 104; vom 10. August 1972 VIII R 1/67, BFHE 107, 195, BStBl II 1973, 9; vom 29. November 2000 I R 31/00, BFHE 194, 76, BStBl II 2004, 41). Da das Vorliegen dieser Voraussetzung zwischen den Beteiligten unstreitig ist, wird auf eine weitergehende Begründung an dieser Stelle verzichtet.
- b) Die Bildung der Rückstellung verlangt darüber hinaus, dass die ungewisse Verbindlichkeit im abgelaufenen Wirtschaftsjahr oder in der davor liegenden Zeit wirtschaftlich verursacht worden ist (BFH-Urteile in BFHE 142, 226, BStBl II 1985, 44; in BFHE 150, 140, BStBl II 1987, 848; vom 20. Januar 1983 IV R 168/81, BFHE 137, 489, BStBl II 1983, 375). Bezogen auf ein laufendes Arbeitsverhältnis ist dieses Erfordernis erfüllt, wenn eine künftige Leistung des Arbeitgebers im Hinblick auf eine schon bewirkte Leistung des Arbeitnehmers geschuldet wird (BFH, Urteil vom 29. November 2000 I R 31/00, BFHE 194, 76, BStBl II 2004, 41). Dies ist vom BFH für rechtsverbindlich zugesagte Zuwendungen aus Anlass eines Arbeitnehmerjubiläums angenommen worden (BFH-Urteil in BFHE 149, 55, BStBl II 1987, 845). Der BFH geht davon aus, dass die spätere Auszahlung der Zuwendung eine Gegenleistung des Arbeitgebers für eine bereits in zurückliegenden Jahren erbrachte Leistung des Arbeitnehmers darstellt. Soweit der Arbeitnehmer seine Leistung in der Vergangenheit erbracht habe, bestehe danach auf Seiten des Arbeitgebers ein Erfüllungsrückstand, der die Bildung einer Rückstellung gebiete (BFH, Urteil vom 29. November 2000 – I R 31/00 –, BFHE 194, 76, BStBl II 2004, 41).
Auch dieses Erfordernis ist vorliegend erfüllt. Dem Beklagten ist zwar einzuräumen, dass der Anspruch auf Altersfreizeit noch von sich künftig realisierenden Bedingungen abhängig ist. Erst eine Betriebszugehörigkeit von mehr als zehn Jahren und das Überschreiten der Altersgrenze von 60 Jahren lösen die Verpflichtung zur Gewährung der Altersfreizeit aus. Hat der Arbeitgeber aber schon Jahre zuvor Leistungen für den zeitlich nachfolgenden Eintritt dieser Voraussetzungen rechtsverbindlich zugesagt und ist die Zusage an die vergangene Dienstzeit und an die Betriebstreue des einzelnen Arbeitnehmers gebunden, liegen die Dinge anders. Unter solchen Umständen unterscheidet sich eine derartige Zusage nicht von einer sonstigen dienstzeitabhängigen Jubiläumsverpflichtung. Hier wie dort orientiert sich die Zuwendung an der bisherigen Betriebszugehörigkeit und verknüpft das zukünftige Ereignis mit den anteilig in der Vergangenheit erbrachten Diensten des einzelnen Arbeitnehmers (so zum Firmenjubiläum entsprechend BFH, Urteil vom 29. November 2000 I R 31/00, BFHE 194, 76, BStBl II 2004, 41). Infolgedessen wird ein entsprechender Erfüllungsrückstand aufgebaut, der die Bildung einer Verbindlichkeitsrückstellung rechtfertigt.
- 5 Abs. 4 EStG steht der Bildung einer Rückstellung nicht entgegen. Diese Regelung bezieht sich lediglich auf Rückstellungen im Zusammenhang mit einem Dienstjubiläum. Ein solcher Fall ist hier nicht gegeben. Auch § 6a EStG greift nicht, weil der Fall einer Pensionsrückstellung nicht vorliegt. Dies ist zwischen den Beteiligten im Übrigen auch nicht streitig.
- c) Die Einwände des Beklagten führen zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung der Sachlage.
Soweit der Beklagte die Auffassung vertritt, ein Erfüllungsrückstand liege im Hinblick auf das Urteil des Finanzgerichts (FG) Niedersachsen vom 15.10.1987, VI 59/85, BB 1988, 1359, nicht vor, überzeugt dies nicht. In dem dort entschiedenen Fall hat das FG Niedersachsen das Recht einer Brauerei zur Bildung einer Rückstellung für Altersfreizeiten abgelehnt. Die zugrundeliegende Regelung des Manteltarifvertrages stellte unter anderem darauf ab, dass der jeweilige Arbeitnehmer in den letzten ´10 Jahren ununterbrochen in Brauereibetrieben beschäftigt´ war. Eine Rückstellung für eine ungewisse Verbindlichkeit könne bei einer solchen Sachlage nicht gebildet werden, weil die erbrachten Arbeitsleistungen in keinem Bezug zur Dauer der Betriebszugehörigkeit ständen. Insoweit könne auch nicht auf die gezeigte Betriebstreue oder die Nichtausübung des Kündigungsrechtes abgestellt werden, denn es sei nicht eine Zugehörigkeit zum Betrieb, sondern zu einer Branche während zehn Jahren vorausgesetzt.
In eben diesem Punkt unterscheidet sich der Sachverhalt des dem FG Niedersachsen vorliegenden Falls indes erheblich von dem hier zur Entscheidung stehenden: Die für die Klägerin und ihre Arbeitnehmer geltende Manteltarifregelung stellt nicht auf eine bloße Zugehörigkeit des Arbeitnehmers zu einer Branche ab, sondern auf dessen Betriebszugehörigkeit. Dementsprechend ist der Anspruch auf Altersfreizeit gerade als Teil des von der Klägerin geschuldeten Entgelts zu sehen. Die Arbeitnehmer der Klägerin treten mit ihrer Arbeitskraft in Vorleistung, die entsprechende Gegenleistung wird von der Klägerin demgegenüber erst in der Zukunft erbracht. Eben dies macht das Wesen eines Erfüllungsrückstandes aus (vgl. BFH, Urteil vom 26.5.1976, I R 80/74, BStBl. II 1976, 622).
Der Hinweis des Beklagten, dass die im Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 11.11.1999 (BMF, IV C 2-S 2176-102/99, FMNR526000099, BStBl I 1999, 959) genannten Voraussetzungen nicht erfüllt seien, ist für den vorliegenden Fall ohne Relevanz. Unabhängig davon, dass ein solches Schreiben keinen rechtsverbindlichen Charakter hat, sei darauf hingewiesen, dass das Schreiben sich explizit bezieht auf die Bildung von Rückstellungen für Verpflichtungen zur Gewährung von Vergütungen für die Zeit der Arbeitsfreistellung vor Ausscheiden aus dem Dienstverhältnis und Jahreszusatzleistungen im Jahr des Eintritts des Versorgungsfalls. Beides betrifft letztlich nicht den hier zu entscheidenden Fall. Andere als die vom BMF in dem Schreiben genannten Fälle eines Erfüllungsrückstandes sind durchaus denkbar und vom BMF nicht explizit ausgeschlossen worden.
Auch der Einwand des Beklagten, der die Verpflichtung auslösende Tatbestand müsse bereits vor dem Bilanzstichtag erfüllt worden sein, verfängt im vorliegenden Fall nicht. Der BFH hat klargestellt, dass dieser Gesichtspunkt – in Abgrenzung zu früheren Entscheidungen des BFH zu anderen Sachverhaltskonstellationen – dann nicht gilt, wenn die Voraussetzungen für die Verpflichtung kontinuierlich, insbesondere im Zeitablauf geschaffen werden (so explizit BFH, Urteil vom 5.2.1987, IV R 81/84, BFHE 149, 55, BStBl. II 1987, 845). In einem solchen Fall müsse auch die Rückstellung kontinuierlich gebildet werden, und zwar zeitanteilig nach der erbrachten Arbeitsleistung. Für den Fall einer Jubiläumsrückstellung hänge die Rückstellung unter anderem davon ab, wie viele Jahre die Arbeitnehmer dem Betrieb bereits angehört hätten. Insoweit unterscheide sich die Rückstellung darin nicht von einer Rückstellung für eine Pensionsanwartschaft des Arbeitnehmers. Eine solche Anwartschaft hätten dann auch die Arbeitnehmer erlangt, wenn ihr Anspruch aus der Zusage von der weiteren Betriebszugehörigkeit abhinge und sich dieser Tatbestand im Zeitablauf verwirkliche.
Genauso verhält es sich auch im vorliegenden Fall. Neben ihrer Arbeitsleistung bedarf es schlicht des Zeitablaufs, um die Merkmale der Betriebszugehörigkeit und die Altersgrenze zu erreichen, so dass aus der ungewissen Verbindlichkeit eine wirksame und fällige wird. Während letztere als Verbindlichkeit zu bilanzieren wäre, ist im zeitlichen Vorfeld der Erfüllung aller Tatbestandsmerkmale der Manteltarifregelung eine entsprechende Rückstellung zu bilden, da und solange die Verbindlichkeit noch ungewiss ist und nur noch vom Zeitablauf abhängt.
Letztlich agiert der Beklagte dementsprechend widersprüchlich, wenn er die Bildung einer Rückstellung gänzlich ablehnt: Geht der Beklagte davon aus, dass erst mit Erreichen der Altersgrenze bzw. der Betriebszugehörigkeit der Tatbestand der auslösenden Verpflichtung erfüllt ist, so hätte er zumindest insoweit eine Rückstellung anerkennen müssen, als eben einige Arbeitnehmer diese beiden Merkmale ja bereits erfüllen. Der angefochtene Bescheid kann schon von daher keinen Bestand haben und erweist sich bereits hinsichtlich der Versagung der Rückstellung dem Grunde nach als rechtswidrig. Im Übrigen stellen sich die Merkmale der Altersgrenze und Betriebszugehörigkeit aber eben als vom Zeitablauf abhängige Merkmale dar, die der Verbindlichkeit, wie oben dargestellt, gerade ihre Ungewissheit geben. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass gerade auch für diejenigen Arbeitnehmer, die diese Merkmale noch nicht erfüllen, eine Rückstellung zu bilden ist.
Die Klägerin hat ihre Berechnungsgrundlagen zur Bestimmung der Höhe der Rückstellung vorgelegt. Die Berechnung selbst wie auch die Rückstellung der Höhe generell sind vom Beklagten nicht bestritten worden. In der Berechnung sind alle Arbeitnehmer namentlich und nach Betriebszugehörigkeit und Dienstalter aufgeführt. Im Rahmen der Berechnung der Rückstellungshöhe hat die Klägerin sowohl eine Abzinsung berücksichtigt, als auch einen Faktor für Fluktuation einbezogen (s. zu den Anforderungen an die Rückstellungshöhe BFH, Urteil vom 07. Juli 1983 – IV R 47/80 –, BFHE 139, 154, BStBl II 1983, 753, Rn. 19; vom 29. November 2000 I R 31/00, BFHE 194, 76, BStBl II 2004, 41). Die Höhe der Rückstellung begegnet danach keinen Bedenken. Die Klägerin war nach alledem berechtigt, in ihrer Steuerbilanz eine Rückstellung in Höhe von 349.000 € gewinnmindernd anzusetzen.“